BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

November 2023 | Neues aus der Recherche Teaserbild

Schuften für das süße Leben der Deutschen

Zucker ist kriegswichtig. Damit die deutsche Bevölkerung nicht auf Süße verzichten muss, werden im Zweiten Weltkrieg viele ausländische Zwangsarbeiter*innen während der herbstlichen Rübenernte in die Zuckerfabriken abkommandiert – auch in Südniedersachsen. Von Mitte Oktober bis kurz vor Weihnachten halten sie die Fabriken in Northeim, Nörten-Hardenberg und Obernjesa am Laufen. Die Polin Bronisława Burek erinnert sich an die gesundheitsgefährdende Knochenarbeit.

Die Arbeit in der Zuckerfabrik ist kräftezehrend. In Zwölf-Stunden-Schichten müssen die Zwangsarbeitenden Tag und Nacht schuften. Die extrem heißen Kessel und Destillierapparate sorgen für eine dampfige, feuchte Hitze, die zusammen mit der kalten Außenluft immer wieder zu Erkrankungen führt. Lungenentzündung und Typhus sind keine Seltenheit, die Unfallrate ist hoch. Wegen der mangelnden medizinischen Versorgung sterben viele Menschen. Denn zu den unhygienischen Bedingungen in den Fabriken kommt auch noch der Dreck in den Lagern, in denen die Zwangsarbeitenden wohnen und schlafen müssen. Zudem fehlt es an ausreichender Nahrung.

Werkswohnungen der Oberjesaer Zuckerfabrik_klein
Obernjesa, Werkwohnungen der Zuckerfabrik.
Hier mussten wahrscheinlich über hundert polnische Zwangsarbeitende wohnen.
Quelle: Ausstellung "Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939 – 1945" | Station 8

Die Polin Bronisława Burek muss als 16-Jährige zwölf Stunden am Tag Kohle schippen und in schweren Schubkarren zu den großen Öfen schieben:

„Wir mussten das ungefähr fünf oder sechs Mal rasch hintereinander machen, dann hatten wir ungefähr fünf Minuten Pause, und dann ging’s wieder los.“

Schon nach wenigen Tagen schafft Bronisława die harte Arbeit kaum noch. Sie geht zum deutschen Vorarbeiter, der aus Schlesien stammt und ein wenig Polnisch spricht.
Zentnergewicht_klein_zuschnitt

„Ich sagte ihm: ‚Sehen Sie, diese Arbeit – die ist zu schwer für mich.‘ Er fragte: ‚Wie alt bist du denn?‘ Und ich sagte: ‚Fünfzehn.‘
Er sagte: ‚Oh, fünfzehn.‘ Dann meinte er: ‚Gut, ich mache das.‘“

Bronisława macht sich also jünger, in der Hoffnung, eine etwas leichtere Arbeit zu bekommen. Und sie hat Glück

„Am nächsten Tag oder dem Tag drauf nahm er jemand anderen, und mich brachten sie in den Lagerraum, wo sechs oder sieben andere von uns waren, mit dem Zucker. Im Vorratsraum war es wenigstens warm, weil der Zucker noch warm war. Dort musste ich die zentnerschweren Säcke wegfahren. Unser deutscher Chef oben auf der Waage wog bloß die fünfzig Kilo ab, und ein Mädchen neben ihm verschnürte die Säcke. Meine Arbeit bestand darin, mit einer Art eiserner Karre zu kommen, den Sack voll Zucker aufzunehmen und ihn ans andere Ende des Lagerraums zu fahren, zu den Mädchen dort, die die Säcke dann zunähten.“

 Zuckerfabrik Obernjesa_klein
Zuckerfabrik Obernjesa
Quelle: Ausstellung "Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939 – 1945" | Station 8

Die belastende und dreckige Knochenarbeit in den Zuckerfabriken ist in der lokalen Bevölkerung unbeliebt, die Zwangsarbeiter*innen dagegen können sie nicht ablehnen. Von Hand entladen sie die Rüben aus hohen Kastenwagen, dann waschen und zerkleinern sie sie und füllen die Rübenstücke in große zylindrische Behälter, wo sie mit warmem Wasser ausgelaugt wurden, bis ein schwarz-brauner Saft entsteht. Dieser Rohsaft wird filtriert und chemisch von Verunreinigungen befreit. Aus dem abgeschiedenen Schlamm gewinnt man einen gelb-grünen Dünnsaft, der mit Dampf zu Dicksaft eingekocht wird. In Kristallisiermaschinen erkaltet die Masse, in Zentrifugen wird noch anhaftender Sirup von den Zuckerkristallen abgeschleudert. Am Ende füllen die Zwangsarbeitenden den Rohzucker in Fünfzig-Kilo-Säcke und stapeln die Säcke im Lager.

Verdampfstation der Zuckerfabrik_klein
Blick in die Verdampfstation der Zuckerfabrik Obernjesa
Quelle: Ausstellung "Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939 – 1945" | Station 8


Die Verarbeitung der Zuckerrüben in der Zuckerfabrik Oldisleben in Thüringen lief noch bis zum Ende der DDR ähnlich wie vor 1945 in Niedersachsen.
Zwei Videos von 1989/90 geben Einblicke:
YouTube Film Zuckerfabrik Oldisleben
YouTube Film Zuckerfabrik Oldisleben | MDR ZEITREISE

Um den sehr hohen Arbeitskräftebedarf für die jährlichen Zuckerkampagnen zu decken, müssen viele Zwangsarbeiter*innen vorübergehend in den Zuckerfabriken arbeiten. Gewaltsam werden Zivilist*innen aus Polen, der Sowjetunion, Belgien, den Niederlanden und – nach dem Sturz Mussolinis 1943 – auch aus Italien direkt zu den Zuckerfabriken verschleppt. 1944 müssen auch Kinder aus Polen und der Sowjetunion, jünger als zwölf Jahre, in der Zuckerfabrik Obernjesa schuften. Zudem ziehen niedersächsische Arbeitsämter zivile Zwangsarbeiter*innen aus den umliegenden Dörfern und der regionalen Industrie zusammen. Ebenso werden belgische, französische, niederländische und sowjetische Kriegsgefangene sowie italienische Militärinternierte saisonal hier eingesetzt.

Die verschiedenen Nationalitäten treffen jedoch selten aufeinander. Die Menschen werden in den Fabriken und Lagern streng voneinander getrennt, auch sollen die zivilen Zwangsarbeiter*innen nicht mit den Kriegsgefangenen in Kontakt kommen. Bronisława Burek erzählt von indirekten Begegnungen mit sowjetischen Kriegsgefangenen in der Zuckerfabrik Obernjesa 1942:

„Die russischen Kriegsgefangenen wurden im Gebäude festgehalten und haben – ich weiß nicht, wie viele – an einer anderen Stelle gearbeitet. Es gab auch viele Deutsche, die in der Fabrik arbeiteten, aber wir hatten mit den meisten von ihnen nichts zu tun. Wir sahen sie nur kommen und gehen.“

Die schlimmsten Arbeitsplätze bekommen die sowjetischen Kriegsgefangenen. Bronisława erinnert sich an einen etwa 25-jährigen Mann, der in einem winzigen Raum arbeiten musste, ungefähr einen Quadratmeter groß. Er habe einen Gummiumhang getragen und sei von Kopf bis Fuß mit einem schleimigen, klebrigen und übelriechenden Sirup bedeckt gewesen. Der Schlamm, der beim Filtrationsprozess entstand, tropfte von oben über seinen Körper und musste von ihm weggeschaufelt werden.

„Es war ein schrecklicher Ort, ich glaube, sie hätten keinem anderen als einem russischen Kriegsgefangenen diese Arbeit gegeben.“

Aber auch von einem Moment der Menschlichkeit erzählt Bronisława:

„In einer Tür war ein Loch, durch das man die Hand stecken konnte. Eines Tages rief jemand von draußen: ‚German! Zucker!‘. Wir wunderten uns. Aber unser Chef sagte: ‚Ruski, Ruski.‘ Er wusste, dass das ein Russe war. Und dieser russische Mann steckte einen kleinen Sack aus Stoff durch das Loch und sagte: ‚German! Zucker!‘, ‚German! Zucker‘. Der Chef sagte zu mir: ‚Geh und gib ihm welchen!‘ Das war wirklich nicht erlaubt, er würde Ärger bekommen, oder der Russe würde großen Ärger bekommen. Ich nahm dem Mann also den Sack aus der Hand und tat zwei Handvoll hinein, bis der Chef sagte: ‚Das reicht, und gib es ihm.‘

So etwas haben nicht viele gemacht. Die sowjetischen Kriegsgefangenen wussten aber, wer wann arbeitete und wen sie um ein bisschen Zucker bitten konnten. Sie waren arm dran. Manche haben Zuckerrüben irgendwo auf dem Boden gefunden und sie ins Feuer gelegt, um sie zu kochen. Aber das war sehr riskant für sie. Die russischen Männer wurden sehr, sehr schlecht behandelt. Sie waren hungrig, sahen schon ganz gelb aus, gingen gebeugt umher.“

Die Absicherung der Zuckerproduktion war ein wichtiger Bestandteil der NS-Kriegspolitik. Der Zucker eignete sich als Konservierungsmittel und lieferte der Bevölkerung zusätzliche Kalorien – und er schmeckte gut. Eine Lehre des Ersten Weltkriegs war es, Kriegsmüdigkeit an der sogenannten Heimatfront zu verhindern. Also wollte man vermeiden, dass Lebensmittel und Luxusartikel knapp werden. Für die Zuckerfabriken in Northeim, Nörten-Hardenberg und Obernjesa wurden deshalb sogar Zwangsarbeiter*innen aus der Waffenproduktion abgezogen. Nach dem Ende der Zuckerkampagne wurden sie von den Arbeitsämtern erneut umverteilt.

Postkarte-Zuckerfabrik Obernjesa_bear_neu
Postkarte von ca. 1962 mit Ansichten von Obernjesa; die Zuckerfabrik ist oben rechts und unten rechts zu sehen.
Quelle: Lisa Grow, Göttingen