März 2024 | Neues aus der Recherche
Fallschirme nähen für den Krieg gegen die eigene Heimat
Für die 1935 gegründete Firma C. & M. Brüggemann in Hann. Münden ist der Zweite Weltkrieg ein blühendes Geschäft. Das Unternehmen produziert Fallschirme für die deutsche Wehrmacht und wächst immer weiter – auch durch den Einsatz von Zwangsarbeiter*innen. Fast alle sind junge Frauen aus der Sowjetunion, die jüngste ist gerade einmal 18 Jahre alt. Auch Natalia Karpenko aus Kramatorsk in der Ukraine wird nach Südniedersachsen verschleppt.
Es ist das Frühjahr 1942. Seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor fast einem Jahr herrscht auch in der Ukraine Krieg. Nur 16 Kilometer nördlich der Stadt Kramatorsk beginnt die deutsche Wehrmacht am 17. Mai 1942 eine Gegenoffensive, die zur Gefangennahme von etwa 240.000 sowjetischen Armeeangehörigen führt und den Grundstein für eine breit angelegte Sommeroffensive legt. In Kramatorsk, einer Industriestadt mit knapp 100.000 Einwohnern, lebt auch Natalia Karpenko.
Die junge Frau, 1922 geboren, ist das einzige Kind ihrer Eltern; als sie acht Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter. Sie absolviert sieben Klassen der örtlichen Mittelschule. Nun, während der deutschen Offensive, befiehlt man sie in die Kommandantur der besetzten Stadt. Später wird sie sich erinnern:
„Dort sagte man uns nur: ‚Notwendige Sachen mitnehmen und am nächsten Morgen wieder in die Kommandantur kommen.‘ Von dort wurden wir zum Bahnhof getrieben und in Viehwaggons geladen. Nur Deutsche führten die Aktion durch.“
Während der mehrtägigen Fahrt mit für sie unbekanntem Ziel können die Menschen die Waggons nicht verlassen. Sie bekommen nur sehr wenig zu essen. Schließlich wird Natalia Karpenko zusammen mit anderen in Hann. Münden aus dem Zug geholt. Es ist der August 1942 und sie befindet sich über 2.300 Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Hier wird sie die nächsten fast drei Jahre ihres Lebens verbringen müssen.
Natalia Karpenko mit Iryna Yankovska, beide im Alter von 21 Jahren, 1943 in Hann. Münden
Quelle: Archiv der ukrainischen NGO „After Silence“
Keine der Frauen ist älter als 24 Jahre
Man bringt Natalia Karpenko zusammen mit weiteren jungen Frauen aus der Ukraine in eine Holzbaracke an der Werra, Hedemündener Straße 8. Direkt nebenan, nur durch einen Zaun getrennt, befindet sich die erst sieben Jahre zuvor gegründete Firma C. & M. Brüggemann.
Luftbildaufnahme der Firma C. & M. Brüggemann um 1960 Quelle: Stadtarchiv Hann. Münden
Sie produziert Fallschirme zum Abwurf von Heeresmaterial. Bereits seit 1938 hat das Unternehmen den Status eines Wehrmachtsbetriebs. Im Krieg wachsen die Produktionsziffern und die Belegschaftszahlen, auf dem Höhepunkt im Januar 1944 arbeiten hier 671 Deutsche (davon 611 Frauen) und 32 ausländische Arbeitskräfte (davon 31 Frauen).
Karteikarte für die Firma C. & M. Brüggemann aus der Reichsbetriebskartei.
Quelle: Bundesarchiv, Standort Berlin-Lichterfelde, Signatur R 3 2008 0847
Auch Natalia Karpenko muss jetzt Material für die deutsche Kriegsführung herstellen. Ein Schicksal, das sie mit anderen jungen Frauen aus ihrer Heimatregion teilt, die in der Näherei und der Sattlerei von Brüggemann eingesetzt werden. Heute sind die Namen von 19 Frauen aus Kramatorsk und dem 17 Kilometer südlich gelegenen Druzhkivka (Druschkowa) bekannt, die seit August 1942 zu unterschiedlichen Zeiten und verschieden lange für C. & M. Brüggemann arbeiten mussten. Keine dieser Frauen ist zu Beginn ihres erzwungenen Arbeitseinsatzes bei Brüggemann älter als 24, die jüngste dieser Gruppe ist 17 oder höchstens 18 Jahre alt.
Im Verlauf des Krieges werden die Zwangsarbeiterinnen vom Arbeitsamt zwischen verschiedenen Unternehmen verschoben. Einige dieser Ukrainerinnen arbeiten nun in anderen Mündener Betrieben wie dem Folienproduzenten und Rüstungszulieferer Haendler & Natermann oder dem Schmirgelwerk C. F. Schröder. Sieben Frauen müssen in die Cellulosefabrik Höttler wechseln, um niederländische Zwangsarbeiter zu ersetzen, die zu den „Reichswerken Hermann Göring“ nach Salzgitter abgezogen wurden. Aus der Gummiwarenfabrik Gebr. Kunth hingegen werden acht Frauen aus der Sowjetunion zu Brüggemann versetzt. Insgesamt ist derzeit von 52 ausländischen Zwangsarbeiter*innen auszugehen, die bei C. & M. Brüggemann arbeiten mussten. Von zwei männlichen Ausnahmen abgesehen handelt es sich ausschließlich um Frauen aus der Sowjetunion, die meisten von ihnen noch sehr jung.
„Wir träumten nur davon, satt zu essen zu haben“
An die Holzbaracke, die für fast drei Jahre ihre Wohnstatt ist, erinnert sich Natalia Karpenko 60 Jahre später:
„Etwa 20 bis 25 Mädchen waren in einem Raum in einer einzigen Baracke. Die Verhältnisse waren hygienisch normal. Die Bewachung erfolgte von Seiten eines Fräulein Lötz und durch einen alten Nachtwächter mit einem Hund.“
Bei der Arbeit erhalten die Ukrainerinnen Anweisungen von einem Deutschen namens Curt Margraf, der sie auch überwacht. Das größte Problem stellt, wie so oft, die unzureichende Versorgung dar:
„Wir bekamen einen Laib Brot für die Woche, was kaum reichte; die Mahlzeiten waren genießbar, aber mager. Wir haben nicht gebettelt, waren aber niemals satt.“
Natalia Karpenko und die anderen Zwangsarbeiterinnen haben, so wird sie sich später erinnern, keine Gelegenheit, Deutsch zu lernen oder Kontakt zu anderen Menschen in Münden aufzunehmen, auch nach Hause besteht keine Verbindung. Der Hunger bestimmt alles andere:
„Wir dachten nicht daran, wir wussten nichts. Träumten nur davon, satt zu essen zu haben.“
Kleidung wird gar nicht ausgegeben, „aus Abfällen der Näherei haben wir uns etwas genäht“, was die Ortspolizeibehörde nach dem Krieg euphemistisch so ausdrückt: „Diese Mädel sind in Zivilkleidung gekommen und haben diese auch behalten.“ Das obligatorische „Ostarbeiterkennzeichen“ allerdings, ohne das die Zwangsarbeiterinnen nicht angetroffen werden dürfen, stellt der Betrieb zur Verfügung.
Antonina Keis wurde wie Natalia Karpenko 1942 aus Kramatorsk zur Zwangsarbeit nach Hann. Münden verschleppt.
Damals war sie 18 Jahre alt. Hier trägt sie das verpflichtende diskriminierende und stigmatisierende „Ostarbeiterkennzeichen“, das die Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion auf den ersten Blick als „Menschen zweiter Klasse“, die den Deutschen stets zu gehorchen hatten, kenntlich machte.
Quelle: Sammlung der ukrainischen NGO „After Silence“
Gelegentlich können die Ukrainerinnen das Firmengelände nach ihrer Arbeit verlassen, sofern sie rechtzeitig zum allabendlichen Zählappell zurück sind. Im Herbst 1943 nutzen das einige von ihnen, um im Mündener Fotostudio Teuteberg Porträtaufnahmen von sich anfertigen zu lassen. Manche schenken sie einander zur Erinnerung und versehen sie mit Widmungen, die auf ihre trübe Zeit in Hann. Münden anspielen:
Iryna Yankovska 1943 im Fotostudio Teuteberg in Hann. Münden.
Sie wurde 1925 in Charkiw geboren.
Quelle: Sammlung der ukrainischen NGO „After Silence“
Der Aufschrift auf der Rückseite lautet:
„Germany
Dear Tosik!!!
I'm gifting you this photo as a token of remembrance. Remember me and our "beautiful life" in Germany.
Let this "hippo's face" remind you of something,
But these are just jokes
24/XI-43, Hann-Münden
Ira Yankovska
19 years old“
„Karte deutschfeindlichen Inhalts“
An manchen Sonntagen lädt eine russlanddeutsche Arbeiterin der Fabrik die jungen Frauen zu sich nach Hause ein und serviert ihnen Kuchen, bis die Polizei das unterbindet. Und eine Ukrainerin lernt einen sowjetischen Zwangsarbeiter von Haendler & Natermann nicht nur kennen, sondern auch lieben. Als die beiden ihren Heiratswunsch kundtun, teilen Haendler & Natermann der Ortspolizeibehörde im März 1944 mit:
„Wir haben unsererseits gegen diese Heirat nichts einzuwenden, jedoch machen wir darauf aufmerksam, dass wir ihm eine Wohnung nicht vor Kriegsende zur Verfügung stellen können, sondern ihn weiterhin in der Unterkunft für Ostarbeiter beherbergen müssen.“
„…nicht vor Kriegsende“… – zu diesem Zeitpunkt im März 1944, vor genau 80 Jahren also, befreit die Rote Armee bereits Natalia Karpenkos Heimatstadt Kramatorsk. Und in eben diesem Monat nimmt die Schutzpolizei der Stadt Hann. Münden am 17. März 1944 die 16-jährige „Ostarbeiterin“ Raja Sharoban, Zwangsarbeiterin bei C. & M. Brüggemann, fest und setzt sie in den 14.05 Uhr-Zug nach Göttingen, wo sie der Geheimen Staatspolizei übergeben wird. Der Vorwurf lautet, sie habe eine „Karte deutschfeindlichen Inhalts“, die offensichtlich der Postzensur auffiel, verfasst. Nach mehreren Monaten, in denen sie wohl im Gefängnis, in einem „Arbeitserziehungslager“ oder einem KZ eingesperrt ist, wird sie nach Hann. Münden zurückgeschickt. Vom 30. November 1944 an leistet Raja Sharoban bis zu ihrer Befreiung Zwangsarbeit bei Haendler & Natermann.
Raja Sharobans Cousine gleichen Namens und fast gleichen Alters, ebenfalls Zwangsarbeiterin bei C. & M. Brüggemann, wird bereits anderthalb Jahre früher, im Oktober 1942, in das Durchgangs-, Kranken-, Sterbe- und Geburtenlager Pfaffenwald südwestlich Bad Hersfelds eingeliefert. So jedenfalls gibt es damals ein Mann namens Günter an, Oberwachtmeister der Schutzpolizei der Reserve in Hann. Münden. Das von den Arbeitsämtern betriebene Lager ist da erst wenige Monate alt. Hier kommen schwangere osteuropäische Zwangsarbeiterinnen unter schlimmen Bedingungen nieder, es werden Zwangsabtreibungen vorgenommen, viele Kleinkinder und Hunderte erwachsener Zwangsarbeiter*innen sterben im Lager im Wald. Aus welchem Grund die erst 15-jährige Raja Sharoban aus Iwanowka in der Ukraine in dieses Lager kommt und was ihr dort widerfährt, ist nicht bekannt.
Ermittlungen nach der Befreiung verlaufen im Sande
Natalia Karpenko übersteht die Zeit der Zwangsarbeit bei C. & M. Brüggemann. Als alliierte Truppen sich der Stadt nähern, verlassen die Aufseherin Frau Lötz und der Nachtwächter mit seinem Hund das Lager:
„Zu Kriegsende blieben wir ohne Aufseher und wir liefen davon in ein Sammellager für sowjetische Bürger. Von dort wurden wir über die Elbe gebracht und wieder in Viehwaggons in die Ukraine gebracht. Ich war glücklich, nach Hause zurückzukehren. Der Vater ist in der Zwischenzeit verstorben. (…) Ich kehrte zurück nach Kramatorsk. Später, 1946, übersiedelte ich nach Kamenka-Buchskaja (Gebiet Lwiw [Lemberg]). Von dort bin ich 1991 nach Israel ausgewandert.“
Natalia Karpenko im Alter von 21 Jahren 1943 in Hann. Münden.
Quelle: Archiv der ukrainischen NGO „After Silence“
Die Firma C. & M. Brüggemann wird nach dem Krieg aufgelöst, bereits 1949 besteht sie nicht mehr. Der Versuch eines deutschen Mitarbeiters des britischen Geheimdienstes, Ermittlungen gegen den Aufseher Curt Margraf wegen mutmaßlicher Misshandlungen der ukrainischen Zwangsarbeiterinnen einzuleiten, verläuft im Sande.
In manchen Herkunftsorten der ukrainischen Zwangsarbeiterinnen des Betriebs C. & M. Brüggemann herrscht seit nunmehr zehn, in den übrigen seit zwei Jahren Krieg. Auf Natalia Karpenkos späte neue Heimat Israel gehen seit sechs Monaten täglich Raketen nieder.