BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

Textgröße:  A   A+ A++

"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Oktober 2023 | Neues aus der Recherche Teaserbild

Knochenarbeit auf dem Rübenacker: Zur Zuckerernte gezwungen

Im Herbst ist Zuckerrübenzeit in Südniedersachsen. Die Ernte, die heute von Landmaschinen übernommen wird, müssen im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter*innen erledigen – von Hand, ohne angemessene Kleidung, auch bei eisiger Kälte. Die Polin Bronisława Burek, damals gerade einmal 16 Jahre alt, war eine von ihnen.

Es ist der 8. Oktober 1942, frühmorgens und bitterkalt. Erst am Tag zuvor sind 58 Mädchen und Frauen aus Polen in Stockhausen angekommen. Sie sollen als Zwangsarbeiterinnen in der Zuckerfabrik Obernjesa eingesetzt werden. Doch es fehlen die Rüben.

Zeitzeugin_Burek
Ausstellungsführung am 17. April 2015 mit Bronisława Burek vor einem Foto aus ihrer Kindheit
Fotoquelle: Philipp Küchler

Bronisława Burek, geborene Haluch, aus Szymbark in Polen erinnert sich:

„Wir konnten in der Zuckerfabrik nicht sofort anfangen zu arbeiten, weil die Bauern ihre Zuckerrüben nicht so schnell ablieferten. Sie hatten keine Leute. Deshalb beschlossen sie – die Bauern oder die Fabrikleitung –, dass sie doch für ein paar Tage einige Leute bekommen könnten. So kam es, dass Bauern einen Wagen schickten und jemanden, der uns mitnahm.“

Eine Woche lang müssen die polnischen Mädchen und Frauen zehn Stunden am Tag auf die Felder, um Zuckerrüben zu ernten. Mit den Händen ziehen sie die reifen Feldfrüchte aus dem Boden, eine anstrengende Arbeit, die den Rücken enorm belastet. Anschließend tragen sie die schweren Rüben zu den von den Bauern bereitgestellten Karren.

„Ich hatte zu Hause nie mit Zuckerrüben gearbeitet, wir bauten keine Zuckerrüben an. Und diese hier waren sehr, sehr schwer. Zuckerrüben haben sehr lange Wurzeln, tief im Boden."

SugarBeet_wiki commons_klein

·

 

Die Zuckerrübe ist ein Pfahlwurzler, ihre Wurzeln können bis zu anderthalb Meter tief in den Boden reichen. Die lange Wurzel bricht bei der Ernte meistens ab. Eine ausgewachsene Rübe ist durchschnittlich 700 bis 800 Gramm schwer.
Quelle: Wikimedia Commons

Angeleitet, erzählt Bronisława, habe sie ein polnischer Zwangsarbeiter:

„‚Ihr greift die Zuckerrüben mit der Hand‘, hat er gesagt und uns eine Art Forke gegeben. ‚Ihr nehmt die Forke, müsst auf sie drauftreten und sie bewegen, sie in die Erde drücken und dann wird die Zuckerrübe rauskommen.‘“

Auf dem Feld trägt Bronisława nur das dünne Kleidchen, das sie trug, als Wehrmachtssoldaten sie im September 1942 gefangen nahmen. Sie ist barfuß, denn ihre Schuhe wurden bei der „Desinfektion“ in einem Durchgangslager in Kraków von den Chemikalien so beschädigt, dass sie während der anschließenden Deportation der Mädchen und Frauen nach Südniedersachsen schließlich völlig auseinanderfallen.

Auf dem Rübenacker schuften die Zwangsarbeiterinnen von sieben Uhr morgens an, bis es um siebzehn Uhr dunkel wird.

„Es war eiskalt, man konnte es sehen, wie Silber, das Feld war ganz silbrig. Wir mussten die Rübenblätter festhalten, während wir die Rüben ausgruben. Jedes Mal, wenn ich die Blätter anfasste, waren sie gefroren, jedes Mal, wenn ich sie anfasste, weinte ich. Es war so kalt und ich war barfuß. Das ging nicht nur mir so, sondern alle klagten. Denn das war kalt, sehr kalt. Ich sagte: ‚Oh Gott, was machen sie mit uns!‘ Da sagte der Pole, der uns anleitete: ‚Es tut mir sehr leid, ich arbeite für den Bauern, und ich kann euch nicht anders helfen, aber wenn die Sonne rauskommt, werdet ihr euch besser fühlen.‘ Und ich dachte: ‚Aber so lange?‘“

Es gibt zwar auch einige Deutsche, die auf dem Rübenacker arbeiten. Ihre Bedingungen aber sind ganz andere, wie Bronisława berichtet:

„Die kamen so gegen zehn Uhr, wenn es sonnig war und kein Frost mehr auf dem Feld war. Und natürlich hatten sie passende Kleidung. Sie arbeiteten auf demselben Feld, aber etwas von uns entfernt."

Im Durchgangslager in Kraków hatten die Gefangenen nur eine ekelerregende Suppe bekommen. Bronisława erinnert sich mit Schaudern:

„Eine übelriechende Suppe aus einem großen Kessel bekamen wir. Sie roch, wie ein Kohl riechen kann, wenn er anfängt zu vergammeln. Das stank meilenweit, puh! Obwohl ich so hungrig war, konnte ich einfach nicht hingehen und die Suppe holen. Keine von uns ging die Suppe holen.“

Stattdessen versuchte Bronisława, einen kleinen Jungen in der Küche zu überreden, für sie und ihre neuen Freundinnen drei Eier zu kochen. Unter großer Gefahr tat er dies – nur so überstanden die Deportierten die Wochen bis zu ihrem Transport nach Deutschland.

Das Mittagessen, das die Bauersfrau den Mädchen und Frauen auf das Zuckerrübenfeld bringt, kommt Bronisława deshalb wie ein Festmahl vor:

„Und das war Suppe! Zum ersten Mal in meinem Leben aß ich Suppe mit geviertelten Kartoffeln und Birnen drin. Mir hat das fantastisch geschmeckt, wisst ihr, denn ich hatte Hunger und das war was Solideres, nicht bloß so eine dünne Suppe, wie wir sie sonst so bekamen.“

Trotzdem ist Bronisława froh, als die harte Arbeit auf dem Rübenacker für sie nach einer Woche endet. „Gott sei Dank, das ist vorbei!“, denkt sie. Ihre Zwangsarbeit in der Zuckerindustrie aber geht weiter. Fortan werden die aus Polen deportierten Mädchen und Frauen in die Zuckerfabrik in Obernjesa geschickt, um die geernteten Rüben zu Zucker verarbeiten.

Zuckerrubenernte
Geerntete Zuckerrüben auf einem Feld im Südniedersachsen
Fotoquelle: Lisa M. Grow

Der Zuckerrübenanbau ist einer der arbeitsintensivsten Bereiche der Agrarwirtschaft. Vor der Mechanisierung erforderte er ein hohes Maß an Handarbeit. Dafür griffen die Landwirte auf Saisonarbeitskräfte zurück – meist Frauen und Kinder aus ärmeren Familien, die ebenso produktiv wie die Männer arbeiteten, aber für deutlich weniger Lohn. Die anstrengende Knochenarbeit war bei Einheimischen sehr unbeliebt. Die Kriegsbeute der Wehrmacht von mehreren tausend Menschen aus den besetzten Ländern Europas kam auch für südniedersächsische Bauern deshalb gerade recht.

Zuckeranbau war schon in den europäischen Tropenkolonien untrennbar mit Sklavenarbeit verbunden gewesen. Der Einsatz von Zwangsarbeiter*innen in der Zuckerproduktion des nationalsozialistischen Deutschlands setzte diese Tradition fort, mitten in Europa und mitten im zwanzigsten Jahrhundert

Teaserbild: Zuckerrüben auf einem Feld im Südniedersachsen, Fotoquelle: Lisa M. Grow