BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

August 2022 | Fundstücke Teaserbild

Stefania Jadwiga Włodarczyk: eine polnische Kinder-Zwangsarbeiterin

Am 1. September 1939 wird Polen von Nazi-Deutschland überfallen, der Zweite Weltkrieg beginnt. Bis 1945 deportieren die Nationalsozialisten etwa 2,8 Millionen polnische Bürgerinnen und Bürger zur Zwangsarbeit nach Deutschland – auch Kinder. Stefania Włodarczyk ist erst zehn Jahre alt, als sie verschleppt wird.

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Warschauer Aufstand: Bataillon der Armia Krajowa auf der Chłodna-Straße im Warschauer Stadtteil Wola, wo Stefania mit ihrer Familie lebte.
Quelle: Wikipedia Commons

Stefanias Kindheit unter der deutschen Besatzung ist von Angst und Terror geprägt. Am 1. August 1944 erhebt sich die polnische Heimatarmee im Warschauer Aufstand gegen die Deutschen. Vier Tage später bewerfen deutsche und ukrainische Soldaten das Haus von Stefanias Familie mit Granaten:

„Danach befahlen uns die Deutschen […] und allen anderen Hausbewohnern, das Haus zu verlassen und sich im Hof zu versammeln. Wir durften keinerlei Sachen aus der Wohnung mitnehmen. Als alle draußen waren, wurde unser Haus angezündet. So wie ich da stand, gekleidet nur in mein Sommerkleid, trieben uns die Deutschen zum Warschauer Westbahnhof. Wer das Tempo nicht mithalten konnte, wurde auf der Stelle erschossen.“

Ein Zug bringt Stefania, ihre Familie und andere gefangene Zivilist*innen nach Pruszków. Im dortigen Durchgangslager sperren die deutschen Besatzer Stefania und ihre Familie in Viehwaggons. Meistens werden 100 Menschen in einem Wagen zusammengepfercht. Bei Temperaturen von mehr als 30 Grad im Schatten, ohne Essen, ohne Trinken und ohne frische Luft fahren sie zwei Tage und zwei Nächte lang ohne Halt. Ziel ist das Konzentrationslager Oranienburg-Sachsenhausen, wo alle Männer und Jungen über 14 Jahre von den anderen Deportierten getrennt werden: Stefania sieht ihren Vater hier zum letzten Mal.

Die Nationalsozialisten schicken Stefania, ihre schwangere Mutter und ihre fünf Geschwister nach Northeim. Dort werden sie den Fabrikanten und Bauern aus der Umgebung als Arbeitskräfte angeboten:

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Stefania Włodarczyk 1946
Quelle: Stefania Włodarczyk / Fundacja Polsko-Niemieckie Pojednanie (Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung)

„Wir wurden im Gebäude des Arbeitsamtes untergebracht, wo wir in einem großen Saal die Nacht auf dem Boden verbringen mussten. Am nächsten Morgen wurden wir auf einen leeren Platz geführt. Dort sollten wir uns in Reihen aufstellen, und zwar so, dass wir Kinder vom jüngsten bis zum ältesten Kind vor unserer Mutter standen. Dann kamen deutsche Bauern und Fabrikanten aus den umliegenden Ortschaften und haben sich uns angeschaut. Wer deren ‚Gefallen‘ gefunden hat, wurde ausgewählt und mitgenommen. Es war wirklich wie auf einem Viehmarkt.“

Über eine Woche lang wird die Familie auf dem Platz angeboten, doch niemand will sie haben. Schließlich werden Stefania, ihre Familie und andere Mütter in das Barackenlager an der Schwellentränke gebracht. In der Schwellentränke wird mit hochgiftigen Chemikalien gearbeitet. Das Lager liegt unmittelbar an einer Eisenbahnlinie und einer Schwellenfabrik, etwa zwei Kilometer von Northeim entfernt. Es ist mit Stacheldraht umgeben. Das Verlassen des Lagers ist verboten.

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Der Dienstausweis der Deutschen Reichsbahn für Stefania Włodarczyks Mutter Anna Włodarczyk.
Quelle: Stefania Włodarczyk / Fundacja Polsko-Niemiecki Pojednanie (Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung)

 „In unserer Stube wohnten 15 Frauen und 17 Kinder im Alter von einigen Monaten bis zu 14 Jahren – alle aus Warschau. Außer uns, den polnischen Kindern, waren noch Kinder aus der Sowjetunion im Lager. […] Wir schliefen auf zweistöckigen Pritschen aus Holzbrettern (ich schlief oben), die mit Heu ausgelegt waren, ohne Bettwäsche und ohne Decken. Auch haben wir keine Kleidung bekommen und hatten nur das, was wir zum Zeitpunkt der Deportation trugen – ich hatte also nur ein Sommerkleid an, leichte Sommerschühchen, ohne Strümpfe oder Socken.“

Alle Erwachsenen müssen entweder in einer Fabrik oder bei der Reparatur von Schienen für die Deutsche Reichsbahn arbeiten. Der Lagerkommandant beaufsichtigt die Arbeit der älteren Kinder auf dem Lagergelände. Stefania muss gemeinsam mit den Kindern der sogenannten Ostarbeiter das Lager putzen – eine Arbeit, die für Kinder dieses Alters kaum zu bewältigen ist. Danach holen sie aus der Fabrik schwere und schmutzige Briketts für die Lagerküche, jedes Kind muss zwei Eimer Briketts tragen:

„Doch es gab keine andere Wahl, denn wenn eines von uns sagte, es sei ihm oder ihr kalt, schlug der ‚Polizei‘ mit einem Gummiknüppel auf uns ein und sagte: ‚Wenn ihr arbeitet, wird es euch schon warm.‘ Oder er bedrohte uns mit der vorgehaltenen Waffe. Damals, als 10-jähriges Mädchen, wusste ich nicht, dass er uns nur drohte, und dachte, er würde uns wirklich erschießen.“

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Die Schwellentränke Northeim, bei der das große Zwangsarbeiterlager war, in dem Stefania Włodarczyk als Kind leben und arbeiten musste (Aufnahme vermutlich um 1960).
Quelle: Stadtarchiv Northeim

Das Essen im Lager ist von katastrophaler Qualität, für heranwachsende Kinder nicht nur unzureichend, sondern auch schädlich. Zum Mittagessen gibt es eine wässrige Suppe aus Steckrüben, in der manchmal zwei bis drei, oft verfaulte Kartoffeln schwimmen. Wenn man die Suppe isst, bleibt Sand von den ungewaschenen Kartoffeln zwischen den Zähnen. Wegen der schlechten Ernährung stirbt Stefanias kleinste Schwester Anna, die gerade erst acht Monate alt ist, im Lager. Sie wird hinter dem Friedhof in Northeim auf einer Wiese begraben, auf der sich auch andere Gräber von Zwangsarbeitern befinden.

Fünf Jahre nach dem Ende des Weltkriegs erfährt Stefania, dass ihr Vater im Lager Oranienburg-Sachsenhausen gestorben ist.

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Stefania Włodarczyk als 12-jährige Schülerin in Northeim 1946.
Quelle: Stefania Włodarczyk / Fundacja Polsko-Niemiecki Pojednanie (Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung)

Wie ging es in den Nachkriegsjahren und -jahrzehnten für Stefania und ihre Mutter weiter? Welchen Einfluss hatte der erzwungene Aufenthalt in NS-Deutschland auf ihre weiteren Lebenswege? Diese und weitere Fragen beantwortet die Dauerausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“. Wir freuen uns auf Euren Besuch!

Knapp 75 Jahre nach der Zerstörung der Schwellentränke in Northeim sind noch schädliche Rückstände von Auswaschungen nachgewiesen worden, berichtet der Northeimer Bauausschuss im Juni 2020:
HNA 2020
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