BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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Mai 2023 | Fundstücke Teaserbild

Die zertrümmerte Fabrik: Kriegsende in Rhumspringe

Fast zweieinhalb Jahre schuften Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus den von Deutschland besetzten Gebieten auf der Baustelle der Otto-Schickert-Werke in Rhumspringe. Am 9./10. April 1945 nehmen US-amerikanische Truppen das Gelände ein, die Zwangsarbeitenden sind frei. In einer legendären Aktion wird das Werk zerstört.

Oktober 1942 in einem kleinen Ort im Eichsfeld: Unter Leitung der Hochtief AG beginnen etliche Baufirmen, das Otto-Schickert-Werk Rhumspringe zu errichten. Die Nationalsozialisten wollen hier Treibstoff für Düsen- und Raketenflugzeuge sowie für die V1- und V2-Raketen produzieren. Mindestens 1.760 Männer und Frauen aus dem Ausland sind insgesamt im Einsatz, stellen zeitweise 80 % der Belegschaft. Die meisten der hier tätigen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sind in Barackenlagern auf dem Werksgelände und im Nachbarort Hilkerode untergebracht. Verpflegung, ärztliche Versorgung und hygienische Bedingungen sind katastrophal. Das Arbeitstempo ist tödlich, immer wieder kommt es zu Unfällen.

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Lagezeichnung der Schickert-Werke Rhumspringe. Bewusst ausgespart wurde hier das direkt bei den Fabrikgebäuden gelegene große Barackenlager für die Zwangsarbeitenden.
(Quelle: Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V. / Bearbeitung: Kerstin E. Pieper)

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   Frits‘ Werksausweis, der ihn zum Betreten des Werksgeländes der Schickert-Werke
   Rhumspringe »berechtigt«. (Quelle: L. Winkelmolen-Schreurs, Neer)

Der Niederländer Frits Winkelmolen erinnert sich an die desolaten Zustände, denen die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgesetzt sind:

„Die Bettwäsche saß voller Läuse. Wir haben die Bettwäsche dann abgezogen, diese auf den Tischen ausgebreitet und haben Läuse gefangen und zerquetscht, bis das Schlafen wieder so einigermaßen ging. Waschen? Eine kleine Schale. Weiter gab es nichts zum Waschen. In Hilkerode lagen doch bestimmt ein paar hundert Mann in einer Baracke.“

Werkschutzmänner und die Gestapo misshandeln insbesondere jene Zwangsarbeitenden, die aus Italien oder der Sowjetunion stammen. Der italienische Zwangsarbeiter Giuseppe Chiampo, der seine Erlebnisse in einem Tagebuch festhält, berichtet: Täglich kehren seine Kameraden erschöpft und erkrankt ins Lager zurück. 51 von ihnen finden auf der Baustelle den Tod.

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Der Werksausweis des Dolmetschers und Vertrauensmannes der Italiener auf der Baustelle in Rhumspringe, Giuseppe Chiampo, der ihm den Zutritt zum Werksgelände ermöglichte. (Quelle: Nachlass Guiseppe Chiampo, Padova)

Auf die Freiheit folgt … Zerstörung!

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Die Schickert-Werke Rhumspringe zum Zeitpunkt der Befreiung 1945.
(Quelle: H.J. van Melick, Neer)

Anfang April 1945: In einem Monat soll das Werk in Rhumspringe die Produktion aufnehmen. Doch das Eichsfeld ist umkämpft, US-amerikanische Truppen stehen kurz vor der Einnahme des Gebiets. Der niederländische Zwangsarbeiter Jo Pouls blickt zurück:

„Das Donnern hörten wir, das war erst weit weg und wurde immer lauter, von Woche zu Woche und dann von Tag zu Tag. Dann waren die Vorräte fast alle, da es keinen Nachschub mehr gab. Es war am 12. April alles zu Ende und wir wurden befreit.“

Die Deutschen, die so viele Zwangsarbeitende auf der Baustelle der Schickert-Werke schuften ließen, verlieren die Kontrolle über das Gelände. Einige der vormals Ausgebeuteten beginnen mit der Zerstörung der Fabrik. Giuseppe notiert in seinem Tagebuch:

„Die Versuchung war groß, und aus einem instinktiven Sinn für Genugtuung, ja fast aus einem Bedürfnis nach Gerechtigkeit begannen die deportierten Ausländer und Gefangenen, die gezwungen worden waren, jenes industrielle Meisterwerk zu bauen … es innerhalb weniger Tage zu zerstören.“

Detailliert schildert Giuseppe, was er die „Zerstörung des Tempels“ nennt:

„Zuerst wurden die ausgedehnten Untergeschosse ins Visier genommen. Sie waren dicht von Verbindungen und chemischen Leitungen aller Art durchzogen, von enormen Röhren und Leitungen aus Steinzeug, Porzellan oder Glas. Mit Eisenstangen und Spitzhacken bewaffnet, zerschlugen die Männer – von denen sich viele wegen des andauernden Hungers kaum auf den Beinen halten konnten – alles, ohne die Verletzungsgefahr weiter zu beachten, und machten aus jenen zerbrechlichen Anlagen eine Hekatombe.“

Giuseppe bemerkt einen Mann, der wie eine Statue auf einem Hügel steht, unbeweglich:

„Er stand dort wie versteinert, eine tragische Figur.“

Es ist der Generaldirektor des Werks, der wehrlos dem Wüten beiwohnt. Vor seinen Augen zerstören die ehemals Versklavten seine Fabrik.

Mehr als eine Rache

Für Giuseppe ist das Demolieren des Werks nicht bloß Rache oder Vandalismus. Die Aktion ist auch ein Akt der Sabotage, eine Handlung im Kontext eines Krieges, dessen Ende nun naht. Im Angesicht der zertrümmerten Fabrik zieht Giuseppe ein Fazit:

„Von der Fabrik blieben nur das Gebäude und zwei finstere Schornsteine über, die man wie damals noch heute von Hilkerode aus am Horizont stehen sieht, nun ein trauriges Mahnmal einer irrsinnigen Wahnidee der Herrschaft.“

Jo Pouls und Frits Winkelmolen berichten in biografischen Interviews von ihrer Arbeit auf der Baustelle der Schickert-Werke in Rhumspringe. In den Medien-Stationen unserer Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ könnt ihr ihren Schilderungen lauschen. Und auch Giuseppe Chiampos weitere Lebensgeschichte erzählen wir hier. Bald ist der Tag der Befreiung – der 8. Mai.

Kommt gerne vorbei!