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Juli 2023 | Fundstücke Teaserbild

Vom Baum erschlagen: Was eine Unfallanzeige über Zwangsarbeit in deutschen Wäldern erzählt

Am 19. Februar 1943 stirbt der polnische Zwangsarbeiter Michel Trocha beim Baumfällen im Wenzener Forst nahe Voldagsen. Die Unfallanzeige, die danach bei der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft in Braunschweig eingeht, erlaubt einen Einblick in die Verhältnisse, die während des Zweiten Weltkriegs auch in den südniedersächsischen Wäldern herrschen.

Der Winter 1943 ist kalt, der Brennstoff zum Heizen knapp. Die Reichsforstverwaltung propagiert deshalb die sogenannte Selbstwerbung, bei der Forstbesitzer Menschen aus den umliegenden Ortschaften gegen Bezahlung erlauben, sich eine festgelegte Menge Holz aus einem bestimmten Waldstück zu holen. Am 19. Februar 1943, einem Freitag, sind vormittags gleich mehrere Gruppen solcher „Selbstwerber“ im Wenzener Forst bei Voldagsen unterwegs. Was dann geschieht, geht aus einer Unfallanzeige des Gemarkungspolizeibeamten der Forstgemarkung Wenzen (Kreis Gandersheim) und aus protokollierten Zeugenaussagen hervor.

Demnach waren zwei Männer im unteren Bereich eines Hanges damit beschäftigt, den Stamm einer abgesägten und geschlagenen Hainbuche zu bergen, die in der Krone eines anderen Baumes hängengeblieben war. Es handelt sich um die Polen Michel Kucharski, 30 Jahre alt, und den gleichaltrigen Michel Trocha, die beide auf der Domäne Voldagsen Zwangsarbeit leisten müssen und für diesen Tag Urlaub genommen haben.

„Wir faßten unseren Stamm an und wollten anfangen mit Schaukeln, um ihn aus der stärkeren Buche herauszubekommen“,

berichtet Kucharski vier Tage später in der Unfalluntersuchungsverhandlung.

„Wir sahen dabei nach der Krone unseres Stammes, also in der Richtung bergab, nach bergauf haben wir nicht beobachtet (…), wir waren nur darauf bedacht, möglichst viel zu arbeiten, wir wollten möglichst viel Holz haben. (…) Wie wir über uns rufen hörten, sprang ich zur Seite, wie ich mich umsah, lag Michel Trocha bereits am Boden, der von oben hangabwärts gefallene Stamm lag auf seinem Beine. Ich habe mit zwei anderen Polen Trocha zur Seite gezogen. Wir haben ihm Zeug unter den Kopf gelegt und ihn gut hingebettet. Es kam gleich ein Waldarbeiter.“

Der Buchenstamm, der Michel Trocha unter sich begräbt, war am oberen Bereich des Hanges von zwei anderen Männern gefällt worden: von dem 70-jährigen Schuhmachermeister August Pieper aus Bartshausen und dem 20-jährigen sowjetischen Zwangsarbeiter Ivan Opryszko, der beim Bauern Ölsen in Bartshausen arbeiten musste. Michel Trochas Verletzung ist, für alle ersichtlich, sehr schwer. Die deutschen Aufseher holen umgehend den Arzt Dr. Sehlen aus Delligsen, nach einer halben Stunde kommt ein Krankenwagen, nach einer Stunde wird Trocha ins Krankenhaus Bad Gandersheim eingeliefert. Dort stirbt er noch am selben Tag. Er hat einen Schädelbruch und einen Bruch des rechten Oberarms erlitten. Michel Trocha hinterlässt seine 28 Jahre alte Ehefrau Marie und den gemeinsamen kleinen Sohn Henryk. Das 14 Monate alte Baby und seine Mutter sind nun allein auf der Domäne Voldagsen.

Während ein Beamter der Braunschweigischen Landesforstverwaltung die Verantwortung für den tödlichen Unfall bei Schuhmachermeister Pieper sieht, „noch dazu als einziger Deutscher“, werden die Ermittlungen bald eingestellt. Es müsse „berücksichtigt werden, daß Pi[e]per und die anderen Beteiligten keine geübten Holzfäller waren“, befindet der Oberstaatsanwalt in Braunschweig.

Dieser tragische Unfall macht zweierlei deutlich. Erstens: Die Holz- und Forstwirtschaft war massiv vom Einsatz ausländischer Zwangsarbeitender geprägt. Es ist kein Zufall, dass fünf der sechs direkt Beteiligten bei dem geschilderten Vorfall osteuropäische Zwangsarbeiter sind. Zwangsarbeiter*innen wurden in deutschen Wäldern unabhängig von Besitzverhältnissen und Organisationsformen eingesetzt: Sie mussten für staatliche und kommunale Forstämter, in Privatwäldern, für Forst- und Realgenossenschaften, als Hilfskräfte für Selbstwerber und für Industrieunternehmen wie die Faserholz GmbH arbeiten. Die Faserholz GmbH war ein Tochterunternehmen der IG Farben AG, die auch das Giftgas Zyklon B für die Ermordung der europäischen Jüd*innen in den deutschen Vernichtungslagern herstellte.

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Die Aufstellung des Personalbestands der Göttinger Faserholz GmbH vom Mai 1943 zeigt insbesondere bei der Gruppe der Arbeiter (III.) das krasse Verhältnis von Deutschen und Ausländern: auf jeden deutschen kamen zu diesem Zeitpunkt genau acht ausländische Arbeiter, von denen der allergrößte Teil Zwangsarbeit leisten musste. Selbst bei den Fahrern und Beifahrern (IV.) waren die ausländischen Arbeitskräfte noch in der Überzahl. Da die Faserholz GmbH weitere "Anträge auf Zuweisung von Arbeitskräften" laufen hatte und deutsche Arbeitskräfte praktisch nicht zur Verfügung standen, wird sich der Ausländeranteil in den folgenden Monaten weiter erhöht haben.
Quelle: Stadtarchiv Göttingen Forstamt 134.00c Az, o.P.

Neben zivilen Zwangsarbeitenden wurden viele Kriegsgefangene, insbesondere aus der Sowjetunion, in den Wäldern zur Arbeit herangezogen. Für sie war die harte Arbeit in den Anfangsjahren kaum zu schaffen, denn wie der Leiter des Forstamtes Nienover beobachtete: „Die Russen kommen völlig unterernährt aus den Gefangenenlagern an. In Bodenfelde haben sie sich Regenwürmer und Schnecken aufgeklaubt und haben diese verschlungen, um ihren Hunger zu stillen.“ Nicht selten kam es zu Krankheits- und Todesfällen.

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Władysław Stankowski, genannt „Wades“, polnischer Zwangsarbeiter auf dem
„Weißen Hof“ in Uschlag, musste in den Wintermonaten häufig in der Uschläger Hecke Holz hauen:
Der Tag fing um 4.30 Uhr an. Dann ging‘s in den Kuhstall für etwa zwei Stunden und anschließend wurde in den Wald marschiert. Das waren so acht bis zehn Kilometer durch den Schnee mit schlechtem Schuhwerk. Wenn wir an Ort und Stelle ankamen, haben wir die Fußlappen am Feuer getrocknet, damit die Füße wieder warm wurden.
Quelle: Lina Stankowski, Uschlag

Zweitens: Tödliche Arbeitsunfälle gab es im Zwangsarbeitseinsatz häufig. Überlange Arbeitszeiten, schwere körperliche Arbeit, hoher Arbeitsdruck, oftmals gefährliche Arbeitsplätze, unzureichende Schutzmaßnahmen, dazu mangelhafte Ernährung und fehlende gesundheitliche Versorgung – alles, was kennzeichnend war für die Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, erhöhte das Risiko von Unfällen. In Südniedersachsen ging so über ein Viertel der Todesfälle ausländischer Zwangsarbeitender auf Arbeitsunfälle zurück.

Die "Selbstwerbung" von Holz, insbesondere von Brennholz, wird auch heute noch praktiziert. Unfallschutz- und Versicherungsfragen spielen dabei eine wichtige Rolle, wie z.B. aus einem Merkblatt der Landwirtschaftskammer Niedersachsen hervorgeht: Neues Merkblatt für die Brennholz-Selbstwerbung

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Agrarholz Fotoquelle: Hafizmuar at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0
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