BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Februar 2024 | Neuigkeiten Teaserbild

„Sieh dir dies Bild an und erinnere dich an mich“

Vor 80 Jahren, im Herbst 1943, ließ die Zwangsarbeiterin Natalia Karpenko im Fotostudio Teuteberg in Hann. Münden vier Fotos von sich machen. Jetzt stifteten diese Aufnahmen eine Verbindung zwischen Südniedersachsen und der Ukraine.

Das NS-Verbrechen der Zwangsarbeit wurde in Deutschland erst weit über 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs öffentlich diskutiert. Dabei bildeten Zwangsarbeiter*innen eine der größten, wenn nicht die größte Opfergruppe des Nationalsozialismus. Doch auch in den Heimatländern der betroffenen Menschen gab es aus sehr unterschiedlichen Gründen jahrzehntelang kaum Aufmerksamkeit für ihr Schicksal.

Erst mit der stark verspäteten Entschädigungsdebatte Ende der 1990er Jahre, die viele ehemalige Zwangsarbeiter*innen gar nicht mehr erlebten, begann die Auseinandersetzung in Deutschland. Aber auch in den einst von Deutschland okkupierten Staaten rückte die Verschleppung zur Zwangsarbeit zumindest vorübergehend in den Fokus, weil für das schließlich beschlossene, durchaus aufwändige Entschädigungsverfahren detaillierte Nachweise beschafft werden mussten.

Parallel beschäftigten sich Initiativen und Institutionen in Deutschland und in den Herkunftsländern oder späteren Heimatstaaten der ehemaligen Zwangsarbeiter*innen mit dem Thema, fanden aber nur selten zusammen. Unsere Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“, in der sich Forschung und Perspektiven aus mehreren europäischen Ländern – Polen, den Niederlanden, Italien und Deutschland – vereinen, ist bis heute eher ein Einzelfall als die Regel.

Manchmal aber führen Durchhaltevermögen, Recherchefähigkeiten, das Internet und glückliche (oder eigentlich unglückliche) Umstände nach etlichen Jahren doch noch zu überraschenden Verbindungen. Mehr als 20 Jahre ist es her, dass Natalia Karpenko einem Schreiben an den Landkreis Göttingen einige während des Krieges in Deutschland aufgenommene Fotos von sich beilegte.

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Natalia Karpenko 1944 im Fotostudio Teuteberg in Hann. Münden.

Der Aufschrift auf der Rückseite lautet:

„Liebe Schwester Tonichka!!!
Lass diese toten Gesichtszüge dich an etwas Lebendiges erinnern.
Tonia!
Behalte unser gemeinsames Leben in Deutschland in Erinnerung und vergiss es nie.
Für meine Schwester Tonia von Tasia Karpenko.
Hann-Münden. 30.1.1944 [Unterschrift]“

Natalia Karpenko, 1922 in Kramatorsk in der Ukraine geboren und seit 1991 in Israel lebend, suchte damals beim Göttinger Kreisarchiv um eine Bestätigung für ihre Zwangsarbeit nach (und erhielt sie). Ende 2005 veröffentlichten wir eines der Bilder in einer Collage auf dem Einband unserer Studie „Zwangsarbeit im Landkreis Göttingen 1939-1945“.

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Vorderansicht des Buchs „Zwangsarbeit im Landkreis Göttingen 1939-1945“, Duderstadt 2005. (Ausschnitt)

Vor wenigen Monaten, im September 2023, erhielten wir dann per E-Mail eine Anfrage der Nichtregierungsorganisation „After Silence“ („Nach dem Schweigen“) aus der Ukraine. Das Rechercheteam hatte bei einer Auktion im Internet eine Reihe von Fotos aus dem Nachlass von Antonia Keis gekauft – wegen begrenzter Finanzmittel allerdings nicht alle auf einmal, sondern nach und nach.

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Antonia Keis mit „Ostarbeiter“-Abzeichen.
Quelle: Fotosammlung der NGO „After Silence“

Antonia Keis, zwei Jahre jünger als Natalia Karpenko, stammte ebenfalls aus dem ukrainischen Kramatorsk und musste offensichtlich wie sie im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeit in Deutschland verrichten. Die Bilder aus ihrem Nachlass stammen aus den Jahren 1943 und 1944 und zeigen eine Reihe von Frauen vor einem typischen zeitgenössischen Fotostudio-Hintergrund. Eine in Russland lebende Enkelin von Frau Keis konnte zwar nur wenige Hinweise geben, zumindest aber Antonia Keis auf den Fotos identifizieren. Dank Beschriftungen auf der Rückseite der Aufnahmen sowie nachfolgender Recherchen, zum Beispiel im Onlinebestand der Arolsen Archives, gelang es „After Silence“, die Namen weiterer abgebildeter Frauen und ihre Aufenthaltsorte in Deutschland zu ermitteln: Alle diese Frauen hatten Zwangsarbeit in Hann. Münden verrichten müssen, die Aufnahmen sind im Mündener Fotostudio Teuteberg entstanden.

Zwei der Porträts aus Antonia Keis‘ Sammlung zeigen Natalia Karpenko. Die Widmung auf der Rückseite einer Aufnahme lautet:

„Zur Erinnerung für meine liebe Schwester Tonia Keis von ihrer Schwester Tasia K. [Tasia = Koseform von Natalia]
Während unserer Tage zähen Lebens in Deutschland.
Sieh dir dies Bild an und erinnere dich an mich.
Deutschland. Hann. Münden. 19.11.43. Zur Erinnerung“

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Natalia Karpenko 1943
Quelle: Fotosammlung der NGO „After Silence“

Der Vorsitzende von „After Silence“, der Historiker Andrii Usach, erkannte eines der Bilder von Natalia Karpenko wieder, als er im Internet auf unser Buch über Zwangsarbeit im Landkreis Göttingen stieß. Er wandte sich an uns – und so führte das Foto dazu, dass die Initiativen aus der Ukraine und Südniedersachsen in einen Austausch traten. Wechselseitig ergänzen und erweitern wir unsere jeweiligen Kenntnisse über die NS-Zwangsarbeit und die Menschen, die sie erleiden mussten.

„After Silence“ fügte die Mündener Bilder ihrer Sammlung von Porträts ehemaliger Zwangsarbeitender hinzu, die die Organisation online und auf Flohmärkten erwarb, und veröffentlichte sie im Rahmen des Projekts „While staying in Germany“ („Während der Zeit in Deutschland“) auf der Internetseite. Das Projekt will Bilder von Menschen aus der Ukraine zeigen, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden, will ihre Geschichten bekannt machen und bittet dafür um die Hilfe der Öffentlichkeit.

Kramatorsk im Osten der Ukraine, den Geburtsort von Natalia Karpenko und Antonia Keis, kennen wir leider aus den aktuellen Nachrichten. Auf der Webseite weist „After Silence“ darauf hin, dass Worte wie „Besetzung“, „Zwangsarbeit“, „Bomben“ und „Filtration“ für die überlebenden Zwangsarbeiter*innen erneut den Alltag beschreiben – ähnlich wie für die Forschenden: Auch Lwiw im Westen der Ukraine, Wohnort von Andrii Usach, war bereits Ziel russischer Luftangriffe.

Wie die allermeisten Zwangsarbeiter*innen, die nach der Befreiung in die Sowjetunion zurückkehrten, mussten sich auch Antonia Keis und Natalia Karpenko in eigens geschaffenen Lagern einer demütigenden Personenüberprüfung unterziehen – der sogenannten Filtration, bei der die Sowjetunion vermeintliche „Staatsfeinde“ aufspüren wollte. Die dabei angelegten Akten sind für das Team von „After Silence“ heute unerreichbar: Das Archiv von Donezk verwehrt ukrainischen Forscher*innen seit der Besetzung durch Russland jeden Zugang. Recherchen in Kramatorsk wären wegen der Lage an der Kriegsfront zu gefährlich. Daher bleiben „After Silence“ derzeit nur Online-Recherchen in deutschen Archiven.

In einem zukünftigen Blog-Beitrag werden wir über Natalia Karpenkos Zeit in Hann. Münden berichten.