April 2023 | Aktuell
„Rhumspringe wehrt sich gegen Pläne der Denkmalpflege“ …
… so überschreibt das Göttinger/Eichsfelder Tageblatt einen ausführlichen Artikel und fährt mit der Unterzeile fort: „Protest gegen geplante Eintragung des früheren ‚Schickert-Werks‘ ins Verzeichnis der Kulturdenkmale“. Rhumspringe? Schickert-Werke? War denn da mal was?
Details zur Argumentation des Landesamts für Denkmalpflege und v.a. seiner Gegner, der Gemeinde Rhumspringe und der Besitzerin des Geländes, in: „Rhumspringe wehrt sich gegen Pläne der Denkmalpflege“. Von Britta Eichner-Ramm. Göttinger Tageblatt, 18.3.2023. [PDF Online Artikel] [JPEG Zeitungsartikel]
Am südlichen Ortsrand von Rhumspringe befindet sich eine mit 172.000 Quadratmetern für ein Dorf ungewöhnlich große Industrieanlage. Mit ihren sieben massiven Hallen und zwei 80 Meter hohen Schornsteinen prägt sie das Ortsbild. Für das Landesamt für Denkmalpflege aber sind die ehemaligen Schickert-Werke noch weit mehr: In einem Wertgutachten, das die 84-jährige Geschäftsfrau Leopoldine Tibus als derzeitige Eigentümerin des Areals einholte, kamen die Denkmalschützer*innen zum Ergebnis, dass die gesamte Anlage als „monumentales Zeugnis der nationalsozialistischen Ideologie, Politik und Gewaltherrschaft“ in die Liste der Kulturdenkmale aufgenommen werden sollte. Neben der architektonischen Gestalt und dem Erhaltungszustand verweist das Landesamt ausdrücklich auf das Gelände des ehemaligen Zwangsarbeitslagers direkt am Werk, das nach Abriss der Baracken nie genutzt wurde, so dass „umfangreiche archäologische Funde“ erwartet werden dürfen.
Blick auf einen kleinen Teil des Werksgeländes.
Foto: Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, September 2013.
Ehemalige Zwangsarbeiter*innen, Angehörige und die internationalen Mitarbeiter der Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ bei einem Besuch am früheren Zwangsarbeitsplatz.
Foto: Lisa M. Grow, Geschichtswerkstatt Göttingen e.V., Januar 2010.
Gegen diese Einschätzung „wehrt sich“ nun, wie das Göttinger/Eichsfelder Tageblatt titelt, vehement „Rhumspringe“. Gemeint ist: Nicht nur Leopoldine Tibus, die Gebäude und Gelände 1976 mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann erwarb und teils für ihre Firma „Bootsimport Tibus“ nutzte, teils vermietete, passt die Sicht des Denkmalschutzes nicht. Auch der gesamte Gemeinderat samt Bürgermeisterin und die Gemeindeverwaltung des Ortes sind auf ihrer Seite: Die Unterschutzstellung schade den Interessen der Eigentümerin wie des ganzen Ortes, eine geschichtliche Bedeutung sei nicht zu erkennen, „einen braunen Anstrich …, das gab es dort nicht.“
Nein?
Das Zweigwerk der Schickert-Werke in Rhumspringe wurde im Zweiten Weltkrieg unter Hochdruck aufgebaut und diente einzig dem Krieg: Hier sollte Treibstoff für deutsche Düsen- und Raketenflugzeuge sowie für die V1- und V2-Raketen produziert werden. Seit Oktober 1942 arbeiteten hier neben der deutschen Belegschaft mindestens 1.760 Männer und Frauen aus dem Ausland für die deutschen Baufirmen – der weitaus größte Teil von ihnen als Zwangsarbeiter*innen. Die Federführung lag bei der Hochtief AG. Zeitweise stellten die ausländischen Arbeitskräfte 80 Prozent der Gesamtbelegschaft. Sie lebten in zwei großen Barackenlagern auf dem Werksgelände in Rhumspringe und im Nachbarort Hilkerode.
Lagezeichnung der Schickert-Werke Rhumspringe. Bewusst ausgespart wurde hier das direkt bei den Fabrikgebäuden gelegene große Barackenlager für die Zwangsarbeitenden.
Quelle: Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V. / Bearbeitung: Kerstin E. Pieper
In den Lagern fehlte es an elementaren hygienischen Einrichtungen, die Bedingungen auf der Großbaustelle waren furchtbar: äußerst scharfes Arbeitstempo bei sehr schwerer körperlicher Arbeit. Es gab viele Unfälle, darunter einige tödliche. So starb Grigori Bytschenko am 24.3.1944 infolge eines „Beckenbruchs mit Quetschungen und Zerreißung der Nieren“. So steht es in seiner Sterbeurkunde.
Vorgesetzte und Wachpersonal trieben die Menschen brutal zur Arbeit an. Uniformierte Werkschutzmänner und die Gestapo misshandelten insbesondere die Zwangsarbeiter*innen aus Osteuropa und Italien oft und schwer. Wladimir Petrowitsch S. war beim Bau des Bahnanschlusses eingesetzt:
„In dem Hauptlager wurden wir zum Aufbau der Eisenbahn getrieben. Der Aufseher dort war … ein sehr brutaler Mann. Er hat alle, die Gesunden und Kranken, geprügelt und zur Arbeit getrieben.“
Wasil Proskura erlebte Misshandlungen direkt auf der Baustelle und auch im angrenzenden Lager:
„Im Lager und in der Fabrik war der Umgang mit uns sehr brutal (wir wurden geschlagen, bestraft, haben nichts zu essen bekommen). Für das Nichtausführen sogar der kleinsten Anweisung wurde man brutal geschlagen. Ich war krank, konnte nicht zur Arbeit gehen. Ich wurde geschlagen, ich war am Bein verletzt. Ein Wachmann schlug mich mit einer Gummipeitsche so brutal, dass ich nicht gehen konnte. Sogar jetzt habe ich noch Schmerzen im Bein.“
Die Lebensmittelrationen für die Zwangsarbeitenden waren viel zu knapp bemessen. Ivo Piaserico hat beschrieben, wie sie für die Italienischen Militärinternierten aussahen:
„Zu essen gab es morgens eine Kelle heißen Getränks, leicht gesüßt. Mittags NICHTS. Abends eine Rüben- und Gemüsesuppe, 20 gr. Margarine und ein Fünftel Kommissbrot, das sorgfältig abgeschnitten und auf einer von uns angefertigten Waage gewogen wurde. An manchen Tagen habe ich furchtbar unter Hunger gelitten.“
Alle Zwangsarbeiter*innen, selbst die bessergestellten Flamen und Niederländer, litten unter starkem Hunger. Wurden sie bei dem Versuch, sich weitere Nahrungsmittel zu beschaffen, entdeckt, folgten rigorose Strafen. Michail Kukurik erlebte es:
„Auf dem Rückweg von der Arbeit hat ein Arbeiter einige Rüben auf dem Feld herausgerissen. Danach wurde er von einem Wachsoldat verprügelt.“
Enzo Piubello war einer dieser Zwangsarbeitenden, die bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln erwischt und schwer misshandelt wurden:
„Am 6.11.1943 wurde ich von einem militärischen Aufseher misshandelt. Er wollte mich töten, weil ich mich vom Arbeitsplatz entfernt hatte, um Kartoffeln aufzulesen. Ich hatte einen solchen Hunger. Er hat mich heftig geschlagen und beschimpft. Ich wurde für eine Woche in die Krankenstation eingeliefert.“
Zum italienischen Arbeitskommando 6008 in Rhumspringe siehe die Blogbeiträge:
Mai 2022: „Ivo Piaserico | Erinnern und Gedenken für die Gegenwart – Nein zum Krieg!“
September 2022: „Als ‚Verräter‘ verschleppt: der italienische Zwangsarbeiter Giuseppe Chiampo in Hilkerode“
Wer die Lager nach der Arbeit noch verlassen konnte, ging in Rhumspringe und den umliegenden Dörfern betteln. Manche verrichteten Hilfsdienste für die einheimische Bevölkerung und bekamen dafür dringend notwendige Lebensmittel wie Rüben, Brot oder Kartoffeln.
Jo Pouls, ehemaliger Zwangsarbeiter aus den Niederlanden, der sowohl in Bad Lauterberg als auch in Rhumspringe in den Schickert-Werken arbeiten musste, im Rhumspringer Werk mit einem Foto des Hauptwerkes in Bad Lauterberg.
Foto: Lisa M. Grow, Geschichtswerkstatt Göttingen e.V., Januar 2010.
Die Zustände im Werk waren bekannt im Ort und das wussten auch die Behörden. Ewald Spieß, damals noch ein Kind, erinnerte sich später:
„An einem der nächsten Tage hörte ich dann mit eigenen Ohren, wie der Gemeindediener durch das Dorf ging, um seine ‚Benachrichtigungen‘ auszuklingeln. Unter anderem: ‚Bekanntmachung! Es wird hiermit nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es streng verboten ist, den Gefangenen und den Arbeitern vom Werk irgendwelche Lebensmittel zu geben. Sie bekommen genug zu essen. Zuwiderhandlungen werden als ‚Schädigung am deutschen Volksgut‘ strengstens bestraft.“
Die Kinder des Ortes bekamen selbstverständlich auch mit, wie der junge polnische Zwangsarbeiter Władysław Sarapata unter dem Vorwurf der Sabotage am 22.7.1943 hingerichtet wurde: Er wurde öffentlich im Dorf aufgehängt. Mindestens 23 weitere ausländische Zwangsarbeiter (ausschließlich Männer) und 51 Angehörige des italienischen Arbeitskommandos 6008 starben in den Jahren 1942 bis 1945. Zu ihnen gehörte beispielsweise Jan Ruschinski (Kulczynski) aus der Nähe von Warschau, der als 20-Jähriger am 20.3.1943 in Rhumspringe an „jugendlichem Irresein“, wie es in der Sterbeurkunde hieß, zugrunde ging.
Und wozu das alles, die Verschleppungen, die Antreiberei, die Schläge, der Hunger, all die Qualen, die Toten? Damit Deutschland den Krieg fortführen und das große Ziel der „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ (Adolf Hitler im Reichstag, 30.1.1939) erreichen konnte, dieses „niemals geschriebene und niemals zu schreibende Ruhmesblatt unserer Geschichte“ (Heinrich Himmler auf einer SS-Gruppenführertagung in Posen, 4.10.1943). Diesem abgrundtief perversen Zweck und der Vernichtung all der anderen "Unwerten", aus der "Volksgemeinschaft" Ausgeschlossenen sollten auch die Schickert-Werke in Rhumspringe zur Produktion von Raketentreibstoff dienen – das sollte nie vergessen werden. Davor, und vor dem Leid der Zwangsarbeiter*innen, die Augen zu verschließen, ist mindestens geschichtsvergessen, wenn nicht menschenverachtend.
Am 15.4.2023 um 15 Uhr werden Günther Siedbürger (Göttingen) und Hans-Georg Schwedhelm (Duderstadt) auf einem Rundgang um das Werksgelände weitere Hinweise zur historischen Situation und der aktuellen Kontroverse geben. Mehr dazu hier
Diese Treppe führte zum direkt neben den Werksbauten gelegenen Zwangsarbeits-Barackenlager.
Foto: Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, September 2013.