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KZ-Außenkommando Duderstadt

Das Leben davor

Judit Nyitrai erinnert sich 2008:
»Wir hatten in Pécs ein ziemlich großes Geschäft, Lebensmittel und Eisen. Meine Eltern arbeiteten im Geschäft. So war bei mir ein Kindermädchen. Meine Eltern waren nicht orthodox und nicht religiös. Nur das Neujahrsfest und Jom Kippur wurden gefeiert. Wir waren assimilierte Juden.«

Katalin Forgács berichtet 2008:
»Wir haben in Miskolc ein Geschäft gehabt. Ein sehr schönes Leben in bürgerlichem Wohlstand hatten wir. Wenn die großen Feste waren, dann sind wir in die Synagoge gegangen, sonst nicht. Wir waren moderne gute Juden.«

Paula Gróf erzählt 2008:
»Ich bin in Nagykörös zur Schule gegangen. Wir waren acht Kinder und einfach so arm, dass oft, wenn wir nach Hause gingen, kein Mittagessen da war. Ich habe sehr fromme Eltern gehabt und jetzt noch zünde ich jeden Freitag Kerzen an.«

Die jüdische Minderheit Ungarns, zwischen den Weltkriegen etwa 400.000 Menschen, war überwiegend reformorientiert und auf bürgerliche Assimilierung bedacht. Ihre soziale Struktur spiegelte die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse wider: eine winzige Oberschicht, eine Mittelschicht der finanziell Gutgestellten und eine Mehrheit der bescheiden, ärmlich oder in Not Lebenden. In manchen Berufen waren Juden deutlich überrepräsentiert, z.B. unter den Ärzten, Rechtsanwälten und Gewerbetreibenden.

In den von 1938 bis 1941 durch Ungarn annektierten Gebieten lebten weitere 325.000 Jüdinnen und Juden. Vor allem in der Karpato-Ukraine (heute Ukraine), in Siebenbürgen (heute Rumänien) und in der Südslowakei waren sie mehr orthodox ausgerichtet. Viele von ihnen arbeiteten als Handwerker und Händler. Ein Viertel der Jüdinnen und Juden in der Karpato-Ukraine lebte bäuerlich.

Antisemitismus in Ungarn

Katalin Rutkai berichtet 2008:
»Mein Vater hat ein Textilgeschäft in Miskolc bis 1943 geführt. Infolge der Judengesetze hat man alle jüdischen Angestellten entlassen. Er war der letzte der Entlassenen, weil er in diesem Geschäft eine sehr wichtige Person war.
Ich habe gut gelernt, aber damals war schon die Lage, dass Juden zumeist nicht ins Gymnasium aufgenommen wurden. Nur mit Hilfe von Beziehungen bin ich in die Handelsschule für Mädchen aufgenommen worden.«


Das jahrzehntelang eher liberale Zusammenleben von jüdischen und christlichen Ungarn hielt nach dem Ersten Weltkrieg einem zunehmenden staatlichen Antisemitismus nicht stand. 1920, 1938, 1939 und 1941 wurden vier diskriminierende Gesetze gegen die jüdische Bevölkerung erlassen. 1941 galt unter anderem:

  • ein Numerus clausus für jüdische Studienbewerber,
  • eine Einschränkung der beruflichen Freiheit von Jüdinnen und Juden in vielen Berufszweigen,
  • die Möglichkeit der Enteignung landwirtschaftlichen Grundbesitzes in der Hand von Juden,
  • ein Verbot der Ehe und von nichtehelichen intimen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden,
  • die Entziehung des aktiven und passiven Wahlrechts für den überwiegenden Teil der ungarischen Jüdinnen und Juden.

Als Jude wurde 1941 definiert, wer jüdischen Glaubens war, ferner, wer mehr als zwei jüdische Großeltern besaß oder aber zwei jüdische Großeltern und dazu Eltern, die zur Zeit der Eheschließung der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten. Zahlreiche Ausnahmen milderten die gesetzlichen Bestimmungen allerdings ab.

Deportation

Nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht am 19. März 1944 wirkten die ungarischen Behörden aktiv daran mit, Jüdinnen und Juden ihrer verbliebenen Rechte und ihres Besitzes zu berauben, sie in Ghettos und Lager zu sperren und 400.000 von ihnen zwischen dem 15. Mai und dem 7. Juli 1944 nach Auschwitz zu deportieren. Dort wurden die meisten von ihnen – ältere Menschen, Frauen mit Kindern – für die sofortige Ermordung, der andere Teil als arbeitsfähig selektiert, und zwar für eine auf die Dauer als tödlich gedachte Sklavenarbeit. So gelangten am 4. November 1944, auf dem Weg über das KZ Bergen-Belsen, 747 ungarische und drei polnische bzw. tschechische Jüdinnen nach Duderstadt. Das Lager Duderstadt war ein Außenlager des KZ Buchenwald.

In der Liste der Neuzugänge des KZ Buchenwald sind manche Geburtsdaten und viele Berufsangaben falsch. Um den Altersgrenzen zu genügen, hatten sich Frauen für älter oder jünger erklärt. Einen handwerklichen Beruf anzugeben, war ihnen günstig für ihren Arbeitseinsatz erschienen.

Die Gefangenen in Duderstadt mussten in der Munitionsfabrik Polte Zwangsarbeit leisten. Vier dieser Frauen starben im Lager Duderstadt. Eine Schwangere wurde nach Bergen-Belsen zurückgebracht. Ein im Lager geborenes Kind konnte nicht überleben. Am 28. Januar 1945 ergänzte die SS die Kommandostärke des Außenlagers wieder auf 750 Häftlinge. Zu dieser Zeit hatten sich die Deportationswege kriegsbedingt geändert. Piri Hoffmann war im November 1944 durch ungarische Nazis und Gendarmen von Budapest aus zur österreichischen Grenze getrieben und dort der SS übergeben worden. Über Bergen-Belsen wurde dann auch sie nach Duderstadt verschleppt.

Die SS erhielt vom Polte-Werk vier Reichsmark je Häftling und Arbeitstag.

Erste Seite der 13-seitigen Liste der Neuzugänge des KZ-Außenkommandos bei den Polte-Werken in Duderstadt:

Quelle: Gedenkstätte Buchenwald, Archiv

 

Geburtsurkunde für Laszlo Fischer, im KZ Bergen-Belsen geborenes Kind der Angehörigen des KZ-Außenkommandos Duderstadt Magda Fischer:

Quelle: Kriegshistorisches Museum Budapest

 

Berichte aus dem Außenkommando

Judit Nyitrai erzählt 2008:
»Es war eine Maschine. Eine saß auf einem hohen Stuhl und hat die Maschine gefüllt mit Patronen.«

Katalin Forgács berichtet 2008:
»Wir haben Maschinengewehrhülsen* überwacht und kontrolliert, ob die Abmessungen richtig sind. Es war eine leichte, in weißen Handschuhen durchgeführte Arbeit. Wir waren nicht in der Kälte.«
(* 2- und 3-cm-Minengeschosse)

Gabriella Farkas gibt 1945 in Budapest zu Protokoll:
»Wir mussten mit Eisen gefüllte zentnerschwere Kisten heben.«

Mária Schwartz schreibt 2005 in einem Brief:
»In Halle 17 arbeitete ich abwechselnd die eine Woche von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends, die andere Woche von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. In Schnee und Eis gingen wir den weiten Weg zur Fabrik, barfuß in Holzschuhen und ohne Unterwäsche in einer gestreiften Häftlingsuniform. Die Aufseherinnen begleiteten uns mit Schäferhunden. (…) Es kam vor, dass uns im Schnee die Schuhe von den Füßen fielen. (…) In der Fabrik musste ich alleine an einer großen Maschine Patronenhülsen formen. Die kleineren Patronen waren in Lauge eingelegt und ich musste sie ohne Handschuhe aus der Lauge in die Maschine legen. (…) Das kleine bisschen ranzige Margarine (ca. 20 g) konnte ich nicht essen, da ich sie auf meine von der Lauge zerfressenen Hände schmieren musste, so weh tat es.«

Ella Löwensohn gibt 1945 zu Protokoll:
»Untergebracht waren wir in Holzbaracken.«

Ebenso Bella und Paula Sámuel:
»Unsere Kost war weniger als minimal und wir litten riesig unter Hunger.«


Im Außenlager Duderstadt waren unter solchen Bedingungen, wie allgemein in der Rüstungsindustrie, die Chancen, bis zur Befreiung zu überleben, erheblich größer als zum Beispiel in Baukommandos. Bewacht wurden die Gefangenen von 18 SS-Aufseherinnen und 13 bis 16 SS-Männern.

Heimkehr

»Eines Tages, weiße Betttücher hingen in Duderstadt schon an den Dächern, sind wir zu einem Bahnhof gebracht worden. Das war dann eine sehr lange Fahrt. Zu essen haben wir kaum etwas bekommen. Blätter und Gras mit wenig Gries, auch Kartoffelschalen haben wir in einer Konservendose gekocht.«

So berichten Judit Nyitrai, Katalin Forgács und Katalin Rutkai über die Evakuierung der Häftlinge des KZ-Außenlagers Duderstadt – kurz vor der Besetzung der Stadt durch amerikanische Truppen am 9. April 1945. Fast drei Wochen später, am 26. April 1945, trafen die Frauen in Theresienstadt ein. Dort wurden sie am 8./9. Mai 1945 durch die Rote Armee befreit.

Die Hoffnung, in Ungarn Angehörige wiederzufinden, erfüllte sich meist nicht. Der frühere Besitz war oft verloren.


»Ich wollte nach Hause kommen mit dem Wunsch, dass ich meine Eltern finde. Aber ich hatte keine Eltern mehr.«
(Katalin Rutkai)

»Ich habe zu Hause leider niemanden angetroffen.« (Lucia Szepesi)

»Den Verlust unserer Angehörigen kann man nicht vergessen.« (Klárá Meskova)

»In unserer Wohnung war mir schon klar, dass nur mein Bruder nach Hause kam.« (Judit Nyitrai)

»Meine Mutter und ich sind in Miskolc angekommen und haben nichts gehabt. Das Haus war von der Roten Armee besetzt. Niemand hat gefragt: Lebst Du? Isst Du? Wo wohnst Du? Dann haben wir bei der amerikanischen Hilfsorganisation JOINT Essen, Kleidung und etwas Geld erhalten.« (Katalin Forgács)

»Die Möbel habe ich alle in der Wohnung gefunden. Nachbarn hatten Bilder und Teppiche aufgehoben.« (Judit Nyitrai)

»Die ganze Wohnung war leer. Dann haben wir angefangen zu arbeiten und Geld zu verdienen.« (Paula Gróf)

Erinnern

In Duderstadt wurde nach 1945 über das KZ-Lager bis 1980 geschwiegen, dann seiner lange in verharmlosender Weise gedacht. 1994 stellte die Stadt ein Denkmal zur Erinnerung an das Lager auf. Darauf heißt es, die Bedingungen seien »menschenunwürdig« gewesen. Die Absicht der SS, ihre jüdischen Gefangenen auf erniedrigende Weise durch erschöpfende Zwangsarbeit profitabel zu vernichten, wird damit auf die Verletzung menschlicher Würde verkürzt. Die Toten des Lagers bleiben unerwähnt. Die Dimension der Shoah wird ausgeblendet.

Auch viele der früheren KZ-Häftlinge schwiegen lange über ihr Schicksal, verdrängten die Erinnerungen und kamen doch nicht davon los.

Ibolya Frisch erklärt 2008:
»Nie war ich imstande, das alles im Zusammenhang meinem Sohn und meinen Enkelkindern zu erzählen.«

Judit Nyitrai meint 2005:
»Vielleicht 25 Jahre später habe ich es meinen Kindern erzählt.«

Katalin Forgács gibt 2008 an:
»Jetzt im Alter kommt das zurück. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke.«

Katalin Rutkai erläutert 2008:
»Wenn wir uns mit den Freundinnen treffen und worüber auch immer unterhalten, kommt es letztlich doch zu diesen Ereignissen. Das ist wie eine Epidemie.«


Ungleich wurden die Häftlinge des KZ-Außenlagers Duderstadt bei der Entschädigung durch die Bundesrepublik Deutschland behandelt. Leistungen erhielten zunächst jene, die in bestimmten westlichen Ländern lebten. Die ungarischen NS-Opfer gingen jahrzehntelang nahezu leer aus. Ohne Rechtsanspruch erhalten frühere jüdische KZ-Häftlinge in Ungarn seit 1998 über die Jewish Claims Conference nach einer Einmalzahlung von 5.000 DM vierteljährlich eine Unterstützung in wechselnder Höhe, im Jahr 2008 ca. 600 € je Quartal.