BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Juli 2022 | Fundstücke Teaserbild

Sommerzeit – Erntezeit

Die Sonne steht hoch am Himmel, unter dem die Lerchen jubilieren, während am Boden im goldgelben Getreide geschmeidig die Sensen durch die Halme gleiten und die Arbeitsleute womöglich einen Kanon anstimmen… – vor weniger als hundert Jahren ist Deutschland noch ein Agrarland und die Landwirtschaft nur wenig mechanisiert.

1937 arbeiten fast zehn Millionen Menschen – ein knappes Drittel aller Beschäftigten – in der Landwirtschaft. Als Deutschland zwei Jahre später den Krieg beginnt und immer mehr Männer einberufen werden, müssen Kriegsgefangene und in immer stärkerem Maße auch Zivilpersonen aus den überfallenen Ländern die Arbeitskräfte in den bäuerlichen Betrieben ersetzen. Auf den Feldern und in den Ställen wird die „Kriegserzeugungsschlacht“ geschlagen. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln steht auf dem Spiel. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter müssen mit ihrer Arbeit dafür sorgen, dass jener Staat, der ihr Land überfallen und sie verschleppt hat, an der „Heimatfront“ Ruhe hat.

Trzeciak
Auch ganze Familien kamen zum Zwangsarbeitseinsatz nach Südniedersachsen. Hier ist die Familie Trzeciak zu sehen, die schon 1939 aus ihrem Heimatdorf Młynisko im Kreis Wieluń (heute Partnerstadt Adelebsens) zum Bauern Karl Eichenberg in Klein Lengden kam, wo sie bis zur Befreiung 1945 bleiben musste. Auch die polnischen Kinder mussten auf den Höfen Arbeit verrichten, beispielsweise Säcke flicken, auf die Hühner aufpassen, Kartoffeln sammeln. Auf dem Foto von links nach rechts (in Klammern das Alter im Oktober 1939): Johanna (9), Franziska (34), Irena (7), Stanislaus (39) und Henryk (16). Die Vornamen wurden in den Meldebüchern häufig eingedeutscht. An den Anzugjacken der beiden Männer ist das diskriminierende „P“-Abzeichen zu erkennen, mit dem polnische Zwangsarbeiter im Deutschen Reich stigmatisiert wurden.
Quelle: Irena Trzeciak

Im April 1941, noch vor dem Krieg gegen die Sowjetunion, kommen in der Landwirtschaft auf sechs deutsche schon vier ausländische Beschäftigte – in Niedersachsen sogar noch mehr. In allen Dörfern Südniedersachsens, auf den Feldern und in den Ställen wird Polnisch gesprochen, ab dem Sommer kommen Russisch und Ukrainisch hinzu.

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Maria Albinowna Renkas wurde mit 17 Jahren 1943 aus ihrem ukrainischen Heimatdorf Karwinowka nach Mollenfelde verschleppt, wo sie bis zur Befreiung 1945 beim Bauern Hermann Scheele arbeiten musste. Die Aufnahme wurde nach dem Krieg im September 1945 im Atelier des Göttinger Fotografen Albert Blankhorn gefertigt.
Quelle: Stadtarchiv Göttingen

Und wie sieht ihr Arbeitstag auf dem Land aus?

„Morgens standen wir um 5 Uhr auf, beendeten die Arbeit um 10 Uhr abends. Morgens habe ich sechs bis acht Schweine gefüttert, 20 bis 30 Kaninchen, etwa 100 Hühner und Gänse. Ich habe das ganze Haus geputzt, in der Küche geholfen, Wäsche gewaschen, geputzt, arbeitete im Garten. Das alles am Vormittag. Nachmittags, von 13.30 Uhr bis 17.30 Uhr, gingen alle aufs Feld und arbeiteten dort. Dann kamen sie nach Hause und fütterten das Vieh. Um 20.30 Uhr gab es Abendessen, dann kam das Geschirrspülen und am Abend haben wir alles repariert, was am Tag kaputtgegangen war.

Sonntags von 14.00 Uhr bis 17.30 Uhr war ein freier Tag. Nachts arbeiteten wir nicht. Urlaub hatten wir keinen“, erinnert sich Maria Albinowna Renkas, die 1943 als 17-Jährige aus der Ukraine zum Bauern Hermann Scheele nach Mollenfelde deportiert wurde: „Wir arbeiteten zusammen mit deutschen Bürgern, alle zusammen und ohne Bewachung. Sie waren sehr gütig zu uns. Wenn wir vor Heimweh traurig waren, haben sie uns getröstet und gesagt: Krieg vorbei und wir werden nach Hause fahren. Im Allgemeinen arbeiteten wir zusammen auf dem Feld.“

Transport Rosdorf
Im Sommer wurden die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auf größeren landwirtschaftlichen Betrieben wie hier in Rosdorf täglich für alle sichtbar durch die Dörfer zu ihren Arbeitsplätzen auf den Feldern transportiert. Quelle: Stadtarchiv Göttingen


Nikolai Andrejewitsch T., 1943 mit 18 Jahren aus seiner ukrainischen Heimat auf den Hof des Bauern Heinrich Gellert nach Sattenhausen verschleppt, hat es ähnlich und anders zugleich erlebt:

„Wir arbeiteten den ganzen Tag, solange es hell war: 18 Stunden am Tag. Einmal pro Woche, nachmittags, durften wir für 3 bis 4 Stunden ausgehen. Abends mussten wir zurück sein, man musste das Vieh, die Kühe und Pferde füttern. Alle Arbeiten im Haus lagen auf meinen Schultern. Bevor ich auf das Feld gefahren bin, habe ich alle Arbeiten im Haus gemacht. Wenn alle zurück vom Feld nach Hause kamen, gingen sie sich erholen. Ich aber ging zum Vieh. Ich war der einzige Arbeiter bei ihnen. (…) Alle schweren Arbeiten, Verladen der Säcke mit Korn, Düngen, Kartoffeln – das alles lag auf meinen Schultern. Sie hätten mir helfen können, aber sie taten es nicht. Ich hatte kein Recht darauf. (…)

Wenn der Mist auf die Felder gefahren wurde, machte ich das allein. Ich habe gemäht, weil die Mähmaschine das nicht machen konnte. Die Mähmaschine ist von einem Bauern zum anderen gefahren, und wir statt der Maschinen haben gearbeitet. Es arbeiteten Ukrainer, Polen, bis zu 20 Menschen. Die Säcke mit dem Korn trug ich bis zum 3. Stock. Ich hatte sehr wenig Kräfte, sie aber verstanden das nicht. Im Herbst: die Kartoffel- und Rübenernte. Und alles auf den Sklaven-Ausländer.“

Feldarbeitsgruppe
Eine typische Landarbeitsszene aus den 1940er Jahren: Frauen beim Einsatz auf dem sommerlichen Feld. Dritte von rechts: Anna Nagórniewicz, die viele Jahre auf dem Rittergut Rosdorf arbeiten musste.
Quelle: Stadtarchiv Göttingen


Mit der romantisierenden Darstellung der Landarbeit, die diesen Blog-Beitrag einleitete, hat das keinerlei Ähnlichkeit. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Arbeit auf dem Bauernhof selbst für Menschen, die keine Zwangsarbeit leisten müssen, eine harte, körperlich herausfordernde und sehr schlecht bezahlte Tätigkeit. Dazu kommen noch die langen Arbeitszeiten sowie Bauern und Bäuerinnen, die ihre Arbeitskräfte oft mächtig herumkommandieren. So ist es nicht erstaunlich, dass die Abwanderung aus der Landwirtschaft bereits vor dem Krieg zu einem Massenphänomen wird, gegen das die Regierung Zwangsmaßnahmen ergreift. Dass der Nationalsozialismus das „Bauerntum“ überhöht, indem er es zur Grundlage der Nation und zum „Neuadel aus Blut und Boden“ stilisiert, ändert daran nichts.

Noch Jahrzehnte später werden viele damals junge Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter die körperlichen Folgen ihres erzwungenen Einsatzes in der deutschen Landwirtschaft spüren.

Übrigens: Heute werden die Ernten in Deutschland mit der Hilfe von etwa 300.000 Saisonkräfte gesichert, die größtenteils aus Südosteuropa kommen. Es „warten auf die Saisonarbeiter*innen in der Landwirtschaft nichts anderes als überlange Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung und geringe Wertschätzung“, schreibt die DGB-Initiative „Faire Landarbeit“.

 Weitere Berichte aus der Landwirtschaft, Filme und Interviewausschnitte findet ihr in der Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“.