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Stefania Włodarczyk

Transport, Ankunft und Verteilung

Im Sommer 1944 im Durchgangslager Pruszków angekommen, werden Stefania und ihre Familie in Viehwaggons geladen und eingesperrt. In einem Wagen werden meistens über 100 Personen zusammengepfercht, und es ist so eng, dass es nicht einmal möglich ist, sich hinzusetzen. Bei Temperaturen von mehr als 30 Grad im Schatten, ohne Essen, ohne Trinken, im Gestank (wer sein »Geschäft« verrichten muss, ist gezwungen, es einfach auf dem Boden zu machen) und ohne frische Luft fahren sie zwei Tage und zwei Nächte lang ohne Halt. Nach zwei Tagen bleibt der Zug stehen, die Türen werden aber erst am dritten Tag geöffnet. »Dann erfuhren wir, dass wir in dem Konzentrationslager Oranienburg-Sachsenhausen angekommen sind.« Sofort werden alle Männer und Jungen über 14 selektiert, angeblich zu einem zweistündigen Arbeitseinsatz. »Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe. Fünf Jahre nach dem Ende des Krieges haben wir vom Roten Kreuz erfahren, dass er in diesem Lager gestorben ist.«

Die Mutter bleibt mit den Kindern noch einige Tage in diesem KZ. Danach werden sie den sechs Kilometer langen Weg zum Bahnhof zurückgetrieben und von der Rampe erneut in einen Zug geladen – diesmal sind es Personenwagen. Der Zug fährt tiefer in das Innere des Deutschen Reiches. An jeder größeren Station, an der er Halt macht, hängt man zwei bis drei Waggons ab.

»Unser Waggon und ein bis zwei weitere Waggons mit Menschen aus Warschau wurden an der Station Northeim abgekoppelt. Dort wurden wir im Gebäude des Arbeitsamtes untergebracht, wo wir in einem großen Saal die Nacht auf dem Boden verbringen mussten. Am nächsten Morgen wurden wir auf einen leeren Platz geführt. Dort sollten wir uns in Reihen aufstellen, und zwar so, dass wir Kinder vom jüngsten bis zum ältesten Kind vor unserer Mutter standen. Dann kamen deutsche Bauern und Fabrikanten aus den umliegenden Ortschaften und haben sich uns angeschaut. Wer deren ›Gefallen‹ gefunden hat, wurde ausgewählt und mitgenommen. Es war wirklich wie auf einem Viehmarkt.«

Da die Familie aus fünf Kindern besteht und die Mutter zudem schwanger ist, will sie niemand haben. So werden sie über eine Woche lang auf dem Platz »präsentiert«, bis fast niemand mehr übrig geblieben ist. Schließlich kommt um den 20. August 1944 der Kommandant des Arbeitslagers von Northeim und nimmt Stefania mit ihrer Familie sowie die restlichen Mütter mit Kindern mit.

Im Lager an der Schwellentränke

Das Lager liegt unmittelbar an einer Eisenbahnlinie und einer Schwellenfabrik, ca. 2 km von Northeim entfernt.

Es ist mit Stacheldraht umgeben und es ist verboten, das Lager zu verlassen. Stefania ist – wie alle anderen Häftlinge – in einer Baracke untergebracht. »In unserer Stube wohnten 15 Frauen und 17 Kinder im Alter von einigen Monaten bis zu 14 Jahren – alle aus Warschau. Außer uns, den polnischen Kindern, waren noch Kinder aus der Sowjetunion im Lager.« In den anderen Baracken leben Menschen aus Italien, Jugoslawien, Belgien, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei. Die einzige Waschmöglichkeit gibt es draußen vor der Baracke, natürlich nur kaltes Wasser.

»Wir schliefen auf zweistöckigen Pritschen aus Holzbrettern (ich schlief oben), die mit Heu ausgelegt waren, ohne Bettwäsche und ohne Decken. Auch haben wir keine Kleidung bekommen und hatten nur das, was wir zum Zeitpunkt der Deportation anhatten – ich hatte also nur ein Sommerkleid an, leichte Sommerschühchen, ohne Strümpfe oder Socken.«

Um fünf Uhr morgens werden alle geweckt. Der Lageraufseher reißt die Tür auf, macht das Licht an und schreit: »Aufstehen!« Alle Erwachsenen (Frauen und Männer) müssen entweder in der Fabrik oder – unter Aufsicht der Deutschen – bei der Reparatur der Schienen arbeiten, die bei den Luftangriffen der Alliierten zerstört wurden. Stefanias Mutter arbeitet bis Mitte Oktober auch bei der Gleisreparatur. Danach wird sie jedoch in der Stadt eingesetzt. Sie bekommt einen Passierschein der Deutschen Reichsbahn und geht täglich zum Bahnhof, wo sie als Reinigungskraft arbeiten muss. Bis zum Mittag arbeitet sie also dort, und wenn sie mit der Reinigung fertig ist, geht sie zum Güterbahnhof, wo die gleiche Arbeit auf sie wartet. Sie putzt alle Büroräume und Bahnsteige, Toiletten, Wasch- und Umkleideräume, heizt die Öfen und kocht Kaffeewasser für die deutschen Eisenbahner. Erst abends kommt sie von der Arbeit zurück ins Lager.

Arbeit, Hunger

Jeden Tag, wenn alle Erwachsenen das Lager verlassen haben, kommt der Lagerkommandant, ein SS-Mann, den alle »Polizei« nennen (er hat einen lahmen Arm und wurde vermutlich deswegen nicht zum Militär eingezogen), zu den älteren Kindern zwischen sechs und 14 Jahren, und sie beginnen mit ihrer Arbeit auf dem Lagergelände. Stefania und andere polnische Kinder müssen gemeinsam mit den russischen Kindern das Lager, also alle Stuben in den Baracken, putzen, den Boden wischen und anschließend den Platz kehren. Danach müssen sie aus der Fabrik Briketts für die Lagerküche holen, in der deutsche Frauen Essen für alle Lagerinsassen vorbereiten. Jedes Kind muss dabei zwei Eimer Briketts tragen.

»Im Sommer und Herbst war die Arbeit noch erträglich, aber im Winter, nur in mein Sommerkleidchen gekleidet, war es wirklich schwer. Doch es gab keine andere Wahl, denn wenn eines von uns sagte, es sei ihm oder ihr kalt, schlug der ›Polizei‹ mit einem Gummiknüppel auf uns ein und sagte: ›Wenn ihr arbeitet, wird es euch schon warm.‹ Oder er bedrohte uns mit der vorgehaltenen Waffe. Damals, als 10-jähriges Mädchen, wusste ich nicht, dass er uns nur drohte, und dachte, er würde uns wirklich erschießen.«

Das Essen ist während des gesamten Aufenthaltes in dem Lager sehr schlecht. Morgens gibt es eine Kanne braune Plörre, die Kaffee genannt wird, und jeder bekommt ein Stückchen Schwarzbrot, manchmal mit einem ganz kleinen Stückchen Margarine. Zum Mittagessen gibt es eine wässrige Suppe aus Steckrüben, in der manchmal zwei bis drei, oft verfaulte Kartoffeln schwimmen. Wenn man die Suppe isst, bleibt Sand von den ungewaschenen Kartoffeln zwischen den Zähnen. Aufgrund dieser schlechten Ernährung stirbt Stefanias kleinste Schwester Anna, die gerade erst acht Monate alt ist, im Lager. Sie soll auf dem Friedhof in Northeim begraben werden, findet aber ihre letzte Ruhe auf einer Wiese hinter dem Friedhof, wo auch andere Gräber der Zwangsarbeiter sind. Stefanias Mutter hat keine Muttermilch, da sie erneut schwanger ist, und es gibt keine andere Nahrung für die Kleinkinder. So überleben die wenigsten Babys das Lager.

Bombenangriffe, die Befreiung

Im April 1945 wird Stefanias jüngster Bruder Stefan geboren. Als ihre Mutter im neunten Monat schwanger war, kam einmal ein Arzt zu ihr. Er untersuchte sie und stellte ihr eine Bescheinigung aus, wonach sie nicht länger arbeiten durfte. Doch der Lagerkommandant lachte nur darüber und die Mutter musste bis zur Geburt weiterarbeiten.

»Ganz schlimm waren auch die Bombenangriffe, an die ich mich besonders gut erinnere. Bei einem Angriff bebte unsere Baracke so sehr von den nahen Detonationen, dass ich vom Bett herunterfiel.« Der Schutzbunker ist auch gar kein richtiger Bunker. Es ist einfach eine Kartoffelmiete, mit einigen Brettern bedeckt. Bei einem anderen Angriff kommt eine Freundin von Stefanias Mutter, Frau Debinska, zusammen mit ihrer zweijährigen Tochter Karolina ums Leben. Auch sie werden hinter dem Friedhof begraben. Bei einem der letzten Bombardements wird das Lager komplett zerstört und verbrennt.

»Wir versteckten uns damals hinter einem Schießstand, der etwas oberhalb des Lagers lag. Nach dem Angriff trafen wir eine von den deutschen Frauen, die in der Lagerküche gearbeitet haben. Sie sagte uns, wir sollen in den Wald gehen. Dahinter seien andere Polen.«

Ein Deutscher führt sie dann zu einer polnischen Familie. Bei ihr bleibt Stefanias Familie dann die nächsten zehn bis 14 Tage, bis die US-Truppen kommen und sie wieder nach Northeim bringen, wo sie die folgenden ein bis zwei Monate im Gebäude des Arbeitsamtes verbringen, diesmal in Zimmern mit Betten.

»Ich weiß noch ganz genau, als die amerikanischen Soldaten kamen und uns, die Kinder von den Zwangsarbeitern, sahen; dreckig und zerlumpt, wie wir waren, zogen sie es vor, den sauberen deutschen Kindern Süßigkeiten zu geben.«