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Sowjetunion

Nadeshda Ryndina

Nadeshda Ryndina ist acht Jahre alt, als sie im April 1945 auf einem Bauernhof bei Göttingen befreit wird. »Man hatte uns an russische Soldaten übergeben und dann konnten wir alle nach Hause.« Unterwegs erkrankt Nadeshda an Typhus, und so verzögert sich ihre Heimreise um einen Monat. Da ihr Heimatort Mazowo seit 1942 nicht mehr existiert, werden Nadeshda, ihre Mutter und Verwandte nach Smolensk geschickt. Dort müssen sie alles wieder aufbauen, was im Krieg zerstört wurde. Nadeshda beschreibt die folgenden Jahre: »Wir lebten sehr arm, bis alle unsere Wunden und der Kummer der Nachkriegszeit verheilten.« Sie absolviert die Mittlere Reife, studiert an der wirtschaftlichen Fakultät einer Hochschule und arbeitet anschließend   bis zu ihrer Pensionierung im Frühjahr 1992 als Buchhalterin.

Ende 1992 erlässt die russische Regierung eine Verordnung, die eine zusätzliche minimale Zuzahlung zur Rente für alle jene – auch Kinder – vorsieht, die in Deutschland als Zwangsarbeitende tätig waren. Trotz vieler Versuche und zahlreicher Zeugenaussagen scheitert Nadeshda mit ihrem Antrag, weil ihre Verschleppung ins Reich nirgends registriert ist. Nach eigenem Ermessen beschließt ein Richter, der für die Industrie im Bezirk Rodzenkowa zuständig ist, dass Nadeshda nie in Deutschland gewesen ist und dass ihre Aussagen reine Lügen sind. Dennoch versucht Nadeshda weiterhin, Nachweise zu erlangen, und wendet sich Anfang 2000 an die Geschichtswerkstatt Göttingen, die ihr Anliegen an das Stadtarchiv weiterleitet. Doch antwortet das Archiv ihr, dass kein Dokument ihren Aufenthalt oder den ihrer Mutter beweist. So muss Nadeshda mit ihrer sehr niedrigen Rente weiterhin zurechtkommen. Sie reagiert in einem Schreiben gelassen, aber noch mit Hoffnung:

»Ich bitte Sie, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, ich kann auch ohne materielle Entschädigung weiterleben, Geld ist nicht das Wichtigste, wichtig ist, dass wir in Frieden leben und es keinen Krieg mehr gibt…

Aber, wenn Sie doch irgendwelche Unterlagen finden sollten, schicken Sie diese bitte an mich, mehr brauche ich auch nicht.«

Eine Entschädigung sowie eine höhere Rente hat Nadeshda Ryndina wie viele ehemalige sowjetische Zwangsarbeitende vermutlich nie erhalten.

Hanna Lukaschewna Sabolotna

Als Hanna Lukaschewna Sabolotna 16 Jahre alt ist, fallen Deutsche im Juni 1942 in ihr Dorf Nefödowzi im Bezirk Chmelnizkij ein. Sie bedrohen die Jugendliche mit Gewehr und Peitsche und verschleppen sie nach Deutschland. Vom Juli 1942 bis zum Juli 1943 arbeitet Hanna in einer Textilfabrik in Göttingen, die Kleidung für die Wehrmacht herstellt. Nach einer schweren Gelbsucht stark abgemagert, kommt Hanna zur Bäuerin Frieda Dietmar und ihrer Tochter nach Spanbeck. Frau Dietmars Mann ist verstorben, die beiden Söhne kämpfen an der Ostfront. Auf dem Bauernhof erledigt Hanna bis zur Befreiung im April 1945 alle landwirtschaftlichen Tätigkeiten:

»Im Dorf war es sehr schwer. Ich musste im Stall arbeiten, Kühe melken und nach den Schweinen sehen. Zum Essen bekam ich Kartoffeln, es war nicht genug, um satt zu werden, darum stahl ich Milch. So habe ich überlebt.«

In den Winterzeiten muss sie im Göttinger Eisenbahnausbesserungswerk Reparaturarbeiten an Lokomotiven verrichten. Das Lager Schützenplatz wird mehrfach bombardiert: »In den Luftschutzraum wurden wir nicht mitgenommen. Die Bombenangriffe waren sehr oft. Uns wurde gesagt, dass wir uns auf den Boden hinlegen sollen. Auf die Kapitulation Deutschlands haben wir natürlich gewartet und haben gehofft, nach Hause gehen zu dürfen.«

Alleine und ohne Kontakt zur ihrer Familie und Freunden in der Heimat – abgesehen von einem Brief im Jahr – glaubt Hanna, dass »diese Sklaverei für immer sein wird.«

»Wir waren immer isoliert von Menschen und Leben draußen.« Im April 1945 wird ihr Wunsch wahr: »Wir wurden von Amerika befreit. Die Befreiung haben wir mit Freude empfangen. Nach dem Krieg bin ich nach Hause zurückgekehrt.«

Mit der Befreiung ist das Leid jedoch nicht verflossen. »Nach dem Aufenthalt in Deutschland lag ich acht Mal in einem psychischen Sanatorium, weil ich ständig Angst vor Bombenangriffen, Zerstörung und Feuer in der Nacht hatte. Dort [in Deutschland] war es sehr schlecht, ich war eine Sklavin. Als ich nach Hause zurückkehrte, war es da auch nicht besser, weil uns vorgeworfen wurde, die Bomben für die Vernichtung eigener Landsleute gemacht zu haben. Jetzt [November 2001] bin ich sehr krank, gehe mit einem Stock und ohne Medikamente kann ich nicht leben.« Ihre Rente beträgt im Jahr 2001 nur ca. 20 Euro.