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Italien

Giuseppe Chiampo

Anfang Juli 1945, knapp drei Monate nach der Befreiung, endet Giuseppe Chiampos langer, großenteils in Fußmärschen absolvierter Heimweg bei seinen überglücklichen Eltern in Padova. Die Strapazen des Heimweges, vor allem aber der Erlebnisse in Deutschland machen sich bald bemerkbar: Giuseppe leidet unter großer geistiger und körperlicher Erschöpfung. Sein Ingenieurstudium muss er wegen schwerer Konzentrationsstörungen abbrechen. Noch über Jahrzehnte hinweg erleidet er im Frühling Nervenzusammenbrüche.

Bei der Rückkehr ins soziale Leben hilft ihm der Freundeskreis der abenteuerlustigen desvidai (»Spinner«): Die Gruppe rettet eine Berghütte für den Club Alpino Italiano (C.A.I.; Italienischer Alpenverein) vor dem Verfall. Giuseppe gründet zusammen mit anderen den Chor des C.A.I. von Padova und wirkt dort jahrelang als Solist.

1950 nimmt Giuseppe Chiampo ein Studium der Pädagogik mit dem Schwerpunkt Arbeitspsychologie auf, das er durch Arbeit als Lehrer finanziert. Er arbeitet bei der Nationalen Unfallverhütungsstelle E.N.P.I., zieht nach Pavia und Valdagno und macht sich 1982 als Psychologe selbstständig. Nach der Pensionierung 1989 zieht er mit seiner Frau Chiara, die er 1955 heiratete, wieder ins heimatliche Padova.

Bis in die 1980er Jahre hinein vermeidet Giuseppe Chiampo rigoros den Kontakt mit seinen früheren Leidensgefährten aus Hilkerode. Erst ein Besuch seines dritten und jüngsten Sohnes Stefano in Hilkerode und die nachfolgenden Gespräche lösen 1985 seine Blockade. Giuseppe nimmt den Kontakt zu früheren Gefährten auf, besucht mit seiner Familie das Eichsfeld und setzt sich mit seinen Aufzeichnungen aus der Zeit der Zwangsarbeit auseinander.

Am 24. März 2003 stirbt Giuseppe Chiampo in Padova. Bei der Beerdigung singen seine alten Chorbrüder das Lied è morto un alpin (Der Tod eines Gebirgssoldaten), das Giuseppe Chiampo selbst als Solist früher häufig und gern vorgetragen hat:

Lied anhören:

 

»Ein alpino ist in den Bergen gestorben.
Nach dem Krieg war er von der Grenze heimgekehrt.
Als er zu Boden fiel, konnte er einen Engel hören, der ihm sagte:
›Oh guter alpino, sage deinem kleinen Haus einen Gruß und ich werde ihn für dich überbringen.‹
Da öffnete der alpino seine Augen: Der Engel schien ihm ganz nah.
›Engel des Himmels, bringe meinen letzten warmen Kuss zu meinem Schatz.
Bringe meinen letzten warmen Kuss zu meiner Liebsten.‹«

 

»E‘ morto un alpin su la montagna
ritornava dal confin dopo la guera
ma quando l‘alpin l‘è cascà in tera
cor lì l‘angiol del trentin che ‘l che diseva
o bell’alpino alla tua casetta manda un saluto io lo porterò
alora l’alpin l’a vert i oci: ghe parea che l’angiolin fusse el so nino
angiol del cielo l’ultimo mio baso
porteme ‘n caldo al mio Tesoro«

 

Sisto Quaranta

Als Sisto im Zug in seine Heimat zurückkehrt, trägt er eine amerikanische Uniform und es geht ihm besser als den 25 anderen Männern in seiner Begleitung: diese sind noch immer von den schrecklichen Erlebnissen ihrer Gefangenschaft gezeichnet. Nachdem Sisto endlich seine Familie in die Arme geschlossen hat, trifft er sich mit dem Pfarrer der Gemeinde, der eine erste Liste der Verschleppten zusammenstellt. Er ist es, der die Rückkehr der aus dem Quadraro Deportierten festhält. Die letzte Gruppe, die von den Russen im Osten Deutschlands befreit wurde, trifft einen Monat später ein.

Nach dem Krieg hat Sisto Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden, aber zu guter Letzt wird er als Elektriker im Verteidigungsministerium angestellt. Dort bleibt er bis zu seiner Pensionierung.

Im Jahr 1984 wird im Quadraro ein Komitee zur Erinnerung an die Razzien gegründet. Sisto ist einer der Ersten, die sich anschließen. Nach und nach kann man immer mehr Deportierte und deren Familien sowie auch Schulen und andere Institutionen zur Mitarbeit gewinnen, indem man historische Recherchen, Publikationen und didaktische Maßnahmen anregt.

Infolge des Freiheitsentzuges durch die Polizei und wegen des im Durchgangslager von Fossoli Erlittenen erhalten die Deportierten des Quadraro vom italienischen Staat eine Rente auf Lebenszeit. Etwa zwanzig von ihnen bekommen auch vom Fonds der deutschen Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« Entschädigungszahlungen für die Sklavenarbeit, die sie in Deutschland geleistet haben.

An die Razzien und Deportationen von 1944 erinnert ein im Jahr 2001 eingeweihtes Monument, das in einem nach diesen Ereignissen benannten Park aufgestellt wurde. Dieses Denkmal gehört zu den Monumenten, mit denen sich der Stadtteil stark identifiziert.

Sisto, Giorgio, Ileana, Aldo, Aleandro und die wenigen anderen Überlebenden stehen beispielhaft für die Geschichte des Quadraro.

Rückkehr und Verdrängung

»Wenig zu erzählen war nicht richtig,
hätte man die Wahrheit erzählt,
hätte einem niemand geglaubt,
deswegen habe ich es vermieden zu erzählen.
Ich war Häftling und gut, sagte ich.«

Die Italiener waren unter den letzten Häftlingen, die heimkehrten, und die römische Regierung bereitete keinen Rückkehrplan vor. Wesentlich aktiver hingegen war der Vatikan, der vor allem Hilfe für die in deutschen Krankenhäusern liegenden ehemaligen italienischen Gefangenen organisierte.

Viele der Deportierten kehrten allein auf gut Glück zurück, zu Fuß oder mit der Eisenbahn. Am Brenner angekommen, befanden sie sich in erbärmlichem Zustand, häufig körperlich und geistig gezeichnet. Die Folgen der Zeit in Deutschland äußerten sich vor allem in Lungenleiden, die für viele Sterbefälle verantwortlich waren oder lebenslange Spuren hinterließen. Über Jahre hinweg wurde auf die Vermissten gewartet, deren Fotografien die Mauern der Bahnhöfe füllten.

Die Notwendigkeit, dem Land Stabilität und Perspektiven zurückzugeben, brachte die politischen Kräfte eiligst dazu, die Rechnung mit der Geschichte eines desaströsen Krieges zu begleichen. Italien unterschied die verschiedenen Gefangenschaften nicht und umging auf diese Weise die Auseinandersetzung mit der Verantwortung der faschistischen Diktatur und denjenigen, die sie unterstützten, die durch ihre Komplizenschaft mitverantwortlich gewesen waren.

Die Geschichte der Heimkehrer aus Deutschland vermischte sich deswegen mit der der 600.000 militärischen Gefangenen der Alliierten, und sehr allgemein gesprochen mündete dies in den Prozess einer nationalen Befriedung, der die Demobilisierung der Partisanen und die Reintegration derjenigen beinhaltete, die vom Regime geschädigt worden waren. Die italienischen Militärinternierten (IMI) und die Zwangsarbeitenden im Reich sahen den politischen und moralischen Wert ihrer Erfahrung nicht anerkannt. Bis heute sind die Zahlen derjenigen unter den Deportierten, die in Deutschland und unmittelbar nach dem Krieg gestorben sind, unbekannt. Noch weniger untersucht ist die Geschichte der zivilen Bevölkerung, der Opfer von Zwangsrekrutierung und Razzien, genauso wie die der Opfer deutscher Massaker, die nie strafrechtlich gesühnt wurden.

Enttäuschte Hoffnungen

Verbitterung und Herabwürdigung begleiteten die Zeit nach dem Krieg. Die Überlebenden der Lager wurden mit Gleichgültigkeit empfangen. Sie erlebten große Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung in die Arbeitswelt. Sie wurden isoliert im Vergleich mit jenen, die entweder im Krieg nicht gelitten oder gar von ihm profitiert hatten. Vom Staat erhielten sie lediglich fürsorgerische Unterstützung.

Deportation und Zwangsarbeit wurden in den Kriegsentschädigungsvereinbarungen der frühen 1960er Jahre zwischen Italien und Deutschland nicht berücksichtigt. Gerhard Schreiber beschrieb diesen Vorgang in seiner Grundlagenforschung folgendermaßen: Die IMI wurden »verraten, verachtet, vergessen.«

Im Jahre 2001 hat die Verabschiedung eines deutschen Gesetzes zur Entschädigung der Zwangsarbeiter die Diskussion um die deportierten Italiener wieder in Gang gebracht. Ca. 130.000 Antragsteller, vor allem ehemalige IMIs, wurden aufgrund der Tatsache, dass sie als Kriegsgefangene bezeichnet wurden, von Seiten der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« von einer Entschädigungsleistung ausgeschlossen. Dies bedeutet eine Verfälschung der Geschichte und verletzt das Verlangen nach Gerechtigkeit. Ungestraft bleiben die wichtigsten Unternehmen des Reiches, die gleichen, die die Wiedergeburt Deutschlands ermöglichten.

Das Ausmaß dieser Verantwortungslosigkeit, das das Ergebnis eines politischen Aktes ist, schließt die gesamte Industrie mit ein. Dazu gehören alle Dienstleistungen und die deutschen Firmen, die die italienischen Zwangs-arbeitenden ausgebeutet haben.

Die Sklaven Hitlers erwarteten eine moralische Anerkennung ihres Schicksals und vor allem die Übernahme von Verantwortung. Der Sieg der hier skizzierten Politik ist die Niederlage der Idee eines Europas der Völker, gegründet auf gemeinsamen Werten und Rechtssicherheit.