Stefania Włodarczyk: »Displaced Person« in Südniedersachsen
Die ersten ein bis zwei Monate nach der Befreiung verbringt Stefania Włodarczyk auf Anweisung der US-Armee in Räumlichkeiten des Arbeitsamtes Northeim, wo man Zimmer mit Betten eingerichtet hat. In Northeim gibt es auch einen polnischen Priester und eine polnische Kirche, in der Stefanias Bruder Stefan am 8. Mai 1945 getauft wird. Stefania besucht dort auch wieder die Schule – eine polnische Schule. Ihre Mutter muss infolge der schweren Arbeit, die sie während ihrer Schwangerschaft zu verrichten hatte, nach dem Krieg im Krankenhaus liegen, da sie nicht mehr gehen kann. Es ist ein amerikanisches Krankenhaus, und dort bleibt sie bis zu ihrer Genesung.
»Ein polnischer Oberleutnant sagte uns, wir sollen nicht nach Polen zurückkehren. Dort würde ein weiterer Krieg – mit der Sowjetunion – auf uns warten.« Das sagen auch die Flugblätter, die im Umlauf sind. Die Soldaten würden die Menschen in Sicherheit bringen, bis an die französische Grenze. Also bleiben Stefania und ihre Familie noch bis 1947 in Deutschland. »Wir zogen von einem Lager in das nächste.« Zwei Mal sind sie in Northeim (das zweite Mal in Holzbaracken am Waldrand), außerdem in Hemmingen, Hannover, Hannoversch Münden, Volpriehausen, Moringen. In dem Lager in Volpriehausen, das nahe der Munitionsanstalt (Muna) liegt, gibt es eine große Explosion im Schacht. Es gibt viele Tote. Stefania und ihre Mutter werden verletzt.
In Moringen bleibt die Familie bis Ostern 1947. »Dort gingen wir in die gleiche Kirche wie die Deutschen. Aber nicht gemeinsam. Es gab eine Messe um 9 Uhr und eine, glaube ich, um 10 Uhr. Von dort aus zogen wir (…) nach Rittmarshausen, 19 km von Göttingen entfernt. Ich erinnere mich, dass ich einmal von dort aus mit drei Freundinnen nach Göttingen mit der Schmalspurbahn gefahren bin. Wir sind dort zu einem Rummelplatz gegangen. Leider haben wir dann die letzte Bahn verpasst und mussten zu Fuß zurückgehen.«
Stefania Włodarczyk: Wieder zuhause
Im Juni 1947 entscheidet sich Familie Wlodarczyk, nach Polen zurückzukehren. »Wir hatten immer noch die Hoffnung, dass unser Vater am Leben sei. Aber wohin sollten wir gehen? Wir wussten ja, dass unser Haus und alles, was wir hatten, zerstört worden war.« Sie fahren trotzdem in Richtung Warschau. Erstmal über Stettin, Lodsch nach Lowitsch. Dort sollte der Zug für den ganzen Tag stehen bleiben. »Ich fuhr also nach Sochaczew, wo eine Cousine meiner Mutter vor dem Krieg wohnte. Sie sagte zu mir: ›Fahrt nicht nach Warszawa, dort ist alles zerstört! Kommt zu mir! Die Wohnung meiner Tochter steht frei, ihr könnt sie vorerst haben.‹
Ich fuhr also zu meiner Mutter und meinen Geschwistern zurück und wir stiegen dann auf der Weiterfahrt in Sochaczew aus. Dort blieben wir auch, und ich lebe heute immer noch hier.«
Schnell jedoch kommt es zu Konflikten. Immer wieder gibt es Streit, weil arger Platzmangel herrscht. Stefania wohnt zunächst mit zwölf anderen Familien in einer alten Molkerei, die provisorisch in ein Wohnhaus umfunktioniert wurde. »Es herrschte damals sehr große Armut bei uns. Erst nach fünf Jahren bekamen wir vom Roten Kreuz eine Benachrichtigung, dass unser Vater im Konzentrationslager gestorben ist, damit auch eine Sterbeurkunde und eine kleine Rente. Trotzdem fehlte es an allem, manchmal sogar an Brot.«
Die Zwangsarbeit in Deutschland und der Aufenthalt im Lager haben die Gesundheit der Mutter zerstört. Sie ist oft krank und kann auch nicht mehr arbeiten. Einige Jahre nach ihrer Rückkehr stirbt sie. »Damit haben wir durch die Deutschen beide Eltern verloren.«
»Als meine Mutter gestorben ist, musste ich mir eine Arbeit suchen, um für mich und die kleinen Geschwister zu sorgen. Heute bin ich 75 Jahre alt und lebe alleine. Meine ältere Schwester, Krystyna, mit der ich zusammengewohnt habe, ist vor zwölf Jahren verstorben.« Die Zeit im Lager hat aber auch an Stefania ihre Spuren hinterlassen. Sie leidet unter vielen Krankheiten und hat nicht einmal genug Geld für alle Medikamente, die sie braucht. Monatlich bekommt sie ca. 200 € Rente vom Staat, nach Abzug der Miete und anderer Kosten bleiben etwa 40-50 € im Monat zum Leben. Zurzeit wartet sie auf eine Augenoperation, um wieder sehen und wenigstens alleine aus dem Haus gehen zu können. Doch die Wartezeit für sie als Kassenpatientin wird sich noch über Monate hinziehen.
Rückkehr oder auswandern?
Nach der Befreiung im Frühling 1945 begann für die polnischen Zwangsarbeitenden ein neuer Lebensabschnitt. Ein Teil von ihnen kehrte sehr schnell in die Heimat zurück. Oftmals erfolgte die Rückkehr unter ganz schwierigen Bedingungen, teilweise auch zu Fuß. Doch die Sehnsucht, ihre Familien wiederzusehen, war so stark, dass sie auch diese Herausforderung meisterten. Doch ein anderer Teil – insbesondere ehemalige Häftlinge der Konzentrationslager, die erst einmal ärztlich behandelt werden mussten, Menschen, die sich in Westdeutschland befanden sowie Personen, die auf der Suche nach ihren Nächsten waren – konnten sich dieser Herausforderung noch nicht stellen.
Ein weiteres Argument gegen eine Rückkehr war die Angst vor Repressionen in dem nun von Kommunisten besetzten Polen. Menschen, die aus den östlichen Gebieten Polens stammten, welche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von der Sowjetunion annektiert wurden, verloren ihre Heimat und jeglichen Kontakt zu ihren Familien, deren Schicksal ihnen unbekannt war. Sie alle konnten nicht sofort nach Polen zurückkehren.
Diejenigen, die zunächst in Westdeutschland blieben, wurden als so genannte Displaced Persons (DPs) in provisorischen Lagern (DP-Camps) untergebracht. In diesen Camps begann bald darauf die Organisation eines lange ersehnten »normalen« Lebens. Erste polnische Schulen entstanden, polnischsprachige Zeitungen wurden herausgegeben, das kulturelle Leben blühte auf. Die DP-Camps wurden zu Zentren des religiösen Lebens. Erst jetzt konnten polnische Kinder getauft werden oder zur ersten Kommunion gehen und wieder Ehen zwischen Polen geschlossen werden.
In den Gebieten Deutschlands, die von der Roten Armee besetzt waren, entstanden keine DP-Camps und die ehemaligen Häftlinge und Zwangsarbeitenden waren gezwungen, auf eigene Faust nach Polen zurückzukehren.
Die Rückführung der polnischen Bürger dauerte noch bis Ende der 1940er Jahre. Ein großer Teil polnischer DPs kehrte nie wieder nach Polen zurück. Aus Angst vor neuen Verfolgungen, diesmal seitens der kommunistischen Regierung, entschieden sie sich, nach Großbritannien, Australien oder in die USA auszuwandern.
Quelle: Fundacja Polsko-Niemieckie Pojednanie (Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung)
»Wiedergutmachung«?
Die nach Polen zurückgekehrten Menschen widmeten sich dem Wiederaufbau des zerstörten Landes und ihrem Privatleben. Viele Überlebende, hauptsächlich ehemalige KZ-Häftlinge, schlossen sich in Opferverbänden zusammen und versuchten so, das Unfassbare zu verarbeiten. Andere wiederum verbrannten alle Brücken und begannen ein neues Leben, ohne eine Vergangenheit. Und obwohl man sagen kann, dass es in jeder polnischen Familie mindestens eine oder einen Zwangsarbeitenden gab, wurde es doch für über 50 Jahre offiziell still um sie.
Erst die Nachricht von der Möglichkeit einer finanziellen »Wiedergutmachung« seitens der deutschen Wirtschaft und Regierung mobilisierte viele Polen, das längst geschlossen geglaubte Kapitel wieder aufzumachen. Doch die Ernüchterung kam schnell. Die Leistungen sollten nur einer engen Gruppe der Überlebenden zugute kommen (KZ-Häftlinge, Ghetto- und Gefängnisinsassen sowie Zwangsarbeitende in der Industrie), und in Anbetracht der Beträge konnte von einer »Wiedergutmachung« keine Rede sein.
Viele weitere Verhandlungen waren nötig, um letztendlich auf der Grundlage der so genannten Öffnungsklausel ehemalige, u.a. in der Landwirtschaft eingesetzte und minderjährige Zwangsarbeitende in die Auszahlungen einzuschließen – dies allerdings nur zum finanziellen Nachteil der ersteren Gruppen. Die imposante Zahl von knapp einer Milliarde Euro, die die Stiftung »Polnisch-Deutsche Aussöhnung« aus den Mitteln der Bundesstiftung EVZ an über 484.000 Personen in Polen auszahlte, verliert ihren Glanz, wenn man ehemalige landwirtschaftliche Zwangsarbeitende – deren Anteil an den Auszahlungen letztendlich bei über 70% lag und deren »Wiedergutmachung« ca. 1.100 Euro betrug – nach der »Entschädigung« fragt: »Irgendwann kam da mal was«, lautet oft die Antwort.
Quelle: Fundacja Polsko-Niemieckie Pojednanie (Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung)