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Zuckerindustrie

Wiktorja Delimat

Im Oktober 1942 kommt Wiktorja Delimat mit 60 Mädchen und Frauen aus Polen nach Stockhausen, wo sie alle in den Saal der Gastwirtschaft Küster gesperrt werden. Täglich gehen die Frauen durchs Dorf zu Fuß zur Arbeit in die Zuckerfabrik im benachbarten Obernjesa. Außerhalb der Arbeitszeiten müssen sie sich ständig im Lager aufhalten, das immer zugesperrt bleibt.

»Ausgang war nur hinten zur Toilette. (…) Das war alles abgeschlossen, das Gebäude war rundum zu (…). Wir durften da auf die Toilette, aber raus auf den Hof nicht. Wir durften angeblich mit keinem sprechen. Mit Deutschen überhaupt nicht. (…) Rundrum waren die Doppelbetten, und auch in der Mitte. Ein Stuhl stand unten, und dann schlief einer unten und einer oben. Und mehr war da nicht. Zum Essen hat sich jeder auf sein Bett hingesetzt und dann weggeschlabbert, was es gab. Also da gab´s keinen Extra-, keinen Esstisch oder so was.«

Die polnischen Mädchen und Frauen müssen oft schwer heben und die Arbeitsbedingungen sind schlecht. Täglich wird in Zwölf-Stunden-Schichten gearbeitet, ohne Erholungstag. Als einzige Zwangsarbeiterin kommt Wiktorja in das Labor der Fabrik. Dort hilft sie bei der Messung der Zuckerprozente, indem sie geriebene Rübenmasse durch einen Filter presst, durch einen Trichter fließen lässt und schließlich in Behälter abfüllt. Danach muss sie die Geräte und Gläser abwaschen.

»Also ich habe mich da so gut eingearbeitet, und ich war so froh: Da war´s wenigstens warm da, und ich hatte kein Schuhwerk, gar nichts, und da waren so Holzdielen drin, da war´s warm, da konnte ich so barfuß rumflitzen! Und unterwegs nachher dann, weil es schon kalt war, da haben sie uns Klompen gegeben, so Holzpantinen. (…) Übrigens, und dann heißt es doch, wir haben überall Geld gekriegt (…) Ich habe überhaupt keinen Pfennig Geld gekriegt – in der Zuckerfabrik! (…) Ich hatte überhaupt kein Portemonnaie, ich hatte nichts! (…) Und so dicke Läuse haben wir gehabt, da hat sich doch kein Mensch – hast du deine Lumpen ausgezogen, hast die Läuse ausgeschlackert, hast die Lumpen wieder angezogen!«

Am Ende der Kampagne werden die Mädchen und Frauen dort nicht mehr gebraucht. Am 22. Dezember kommen Beamte des Arbeitsamtes Göttingen mit Bauern in die Zuckerfabrik:

» (…) und da saßen die Herren da daran, Frauen auch, und dann hatten sie ihre Listen und dann haben sie aufgezählt: ›Gustav Bachmann: Wiktorja Delimat!‹ Einige Bauern fingen dann an zu schimpfen: ›Wir brauchen Arbeitskräfte! Haben sie mir ein Kind gegeben!‹ (…) Aber das haben wir nicht verstanden, weil wir nicht sprechen konnten.«

»Da waren die Listen alle schon fertig, jeder Bauer, der hatte sein Schaf gekriegt und konnte abhauen.« Erst durch die Übersetzung einer Studentin aus Warschau erfahren Wiktorja und die anderen Frauen, was überhaupt vor sich geht.

Der bittersüße Genuss: Northeim, Nörten-Hardenberg, Obernjesa

Was einst Luxus war, gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zu den grundlegenden Nahrungsmitteln. Zucker eignete sich als Konservierungsmittel und lieferte der arbeitenden Bevölkerung zusätzliche Kalorien – mit einem ganz besonderen Geschmack.

Auf diesen Geschmack sollte die deutsche Bevölkerung auch im Zweiten Weltkrieg nicht verzichten müssen. Der süße Genuss half, die Illusion eines normalen Alltags aufrechtzuerhalten. Die Absicherung der Zuckerproduktion war daher ein wichtiger Bestandteil der NS-Kriegspolitik. Zugleich weckte der Verzehr von Zucker das Gefühl, Angehöriger eines privilegierten Volks zu sein.

Von September bis November ernteten die Bauern mit Hilfe von Zwangsarbeitenden die Zuckerrüben. Vom Hof zur Zuckerfabrik gingen oft nicht nur die Rüben, sondern auch die Menschen, die sie geerntet hatten. Parallel fand die Deportation von Zivilisten aus Osteuropa direkt zu den Zuckerfabriken statt, und auch polnische, französische und sowjetische Kriegsgefangene und Italienische Militärinternierte wurden dorthin geschickt. Der alljährliche saisonale Bedarf an Massen von Arbeitskräften für die laufende Zucker-Kampagne war für die Fabrikanten in Northeim, Nörten-Hardenberg und Obernjesa somit gedeckt.

Als Bronisława Haluch aus Polen im Oktober 1942 zur Zuckerfabrik Obernjesa kam, fehlten die Rüben. Eine Woche lang mussten die polnischen Mädchen früh morgens um 7 Uhr auf die Felder gehen: »Wir mussten die Rübenblätter festhalten, während wir die Rüben ausgruben. Jedes Mal, wenn ich die Blätter anfasste, waren sie gefroren, jedes Mal, wenn ich sie anfasste, weinte ich. Es war so kalt und ich war barfuß. Ich sagte, oh Gott, was machen sie mit uns!«

Die zwölfstündige Schichtarbeit in der Zuckerfabrik war sehr kräftezehrend. Eine Gruppe Zwangsarbeitender entlud die Rüben mit den Händen aus hohen Kastenwagen, eine andere arbeitete beim Waschen und Zerkleinern. Sie füllte die Rübenschnitzel in große zylindrische Behälter, wo sie mit warmem Wasser ausgelaugt wurden, bis ein schwarz-brauner Saft entstand. Dieser Saft durchlief verschiedene Bearbeitungsstufen, an deren Ende Rohzucker entstand, der zu Weißzucker raffiniert wurde. So konnten in Kriegszeiten weiterhin Kuchen gebacken, Bonbons für die Wehrmacht hergestellt und süßer Kaffee und Tee getrunken werden.

Diese belastende und dreckige Knochenarbeit war in der lokalen Bevölkerung unbeliebt, die Zwangsarbeitenden hingegen konnten sie nicht ablehnen. Als 15-Jährige schob Bronisława zwölf Stunden am Tag Kohle in Schubkarren zu den großen Öfen. Als sie dies kaum noch schaffte, bekam sie eine leichtere Arbeit: Sie musste die Zentner schweren Säcke Zucker im Lagerhaus transportieren.

Die schlimmsten Arbeitsplätze, so Bronisława, erhielten die sowjetischen Kriegsgefangenen. Einer von ihnen musste einen Gummiumhang tragen, da ihm bei seiner Arbeit unaufhörlich schleimiger und übel riechender Sirup von oben über den Körper tropfte. Dabei »sang er die schönsten russischen Lieder. Es war ein schrecklicher Ort, ich glaube, sie hätten keinem anderen als einem russischen Kriegsgefangenen diese Arbeit gegeben.«