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Die Arbeit des Bettelns

Um das Hungern etwas zu lindern, bettelt Olga Aleksejewna S. zusammen mit einer Freundin in der Göttinger Innenstadt. »Das war Anfang 1943, als es uns erlaubt wurde, zwei Stunden spazieren zu gehen. Einige gaben uns Almosen, einige gaben uns keine. Stehlen konnten wir nichts und nirgends.«

Um den Betrieb oder das Lager verlassen zu dürfen, mussten die osteuropäischen Zwangsarbeitenden eine schriftliche Erlaubnis mit Nennung des Zielortes und der Ankunftszeit bei sich tragen. So nutzten sie diese Zeit als Gelegenheit, etwas mehr an Brot und Kleidung zu besorgen. Nicht selten spürte die Bevölkerung Mitleid mit den oft in Lumpen gekleideten, erschöpften und unterernährten Zwangsarbeitenden und steckte ihnen Brot, Kartoffeln oder Rüben zu.

Andere Bürgerinnen und Bürger fühlten sich jedoch allein durch die Anwesenheit der Bettelnden belästigt und denunzierten sie. Ludwig Dette, Leiter der NSDAP-Ortsgruppe Göttingen-Sültebeck, beschwerte sich im Juni 1944 bei der Göttinger Kreisleitung:

»In der letzten Woche häufen sich die Klagen und Beschwerden über die nach Lebensmitteln bettelnden Ostarbeiter und deren Kinder. Mit Beuteln, ja sogar mit Säcken, ziehen diese eigens zu diesem Zweck in Lumpen gehüllten Menschen von Haus zu Haus und von Tür zu Tür und betteln um Brot und Kartoffeln. Ich muß jedoch nunmehr feststellen, daß hier sich etwas epedemisch (sic) entwickelt, das sich zur Plage auswirkt und schärfster Beachtung verdient. Trotz eingehender Belehrung der Deutschen Menschen finden sich immer wieder mitleidige Trottels (sic), vor allem unter den Frauen, die diesem herumstreichenden Gesindel ihr letztes Brot usw. geben.«

Im Herbst 1944 wurden aufgrund der sich abzeichnenden Niederlage im Krieg Verschärfungen bei der Behandlung der ausländischen Zwangsarbeitenden eingeführt. Neben einer weiteren Einschränkung der Bewegungsfreiheit hob man vor allen Dingen die Unterbringung in Privatquartieren auf. Vor allem westeuropäische Zwangsarbeitende beispielsweise in Einbeck und Hann. Münden, die in Handwerksbetrieben arbeiteten und bis dahin privat wohnten, mussten nun in neu gebildete Lager umziehen.

Quelle: Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. 124/1

 

Beispiel für eine Denunziation bettelnder »Ostarbeiter«: Am 4. Juni 1944 beschwerte sich Georg B. bei der Göttinger NSDAP-Ortsgruppe Sültebeck über einen »Ostarbeiter«, der mit seinem Sohn um Brot und Kartoffeln bat.:

Quelle: Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. 124/2

 

Der NSDAP-Ortsgruppenleiter Ludwig Dette griff die Beschwerde des Georg B. umgehend auf und leitete sie an die NSDAP-Kreisleitung weiter:

Quelle: Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. 124/2 (Schreiben vom 8. Juni 1944)

 

Die NSDAP-Kreisleitung Göttingen nahm die Beschwerde zum Anlass für eine weitgestreute Kampagne gegen die »Bettelei fremdvölkischer Arbeitskräfte«, in die sie sämtliche Parteistellen, die Leitungsebenen der Kommunen und die Gestapo einbezog. Das Schreiben zog auch in benachbarten südniedersächsischen Gebieten Kreise:

Quelle: Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. 124/2 (Schreiben vom 24. Juni 1944)