Im Sommer 1944 verlegte die Ernst Heinkel AG die im Krieg erbeuteten polnischen Flugzeugwerke Mielec vor der heranrückenden Front nach Brunshausen bei Bad Gandersheim. In den dortigen Gebäuden der Kreienser Firma Carl Bruns sollten Flugzeugrümpfe für den Nachtjäger »He 219« hergestellt werden. Das dafür notwendige Personal bestand neben 136 deutschen Facharbeitern, Angestellten und Wachleuten aus KZ-Häftlingen: Von Oktober bis Dezember 1944 wurden bis zu 600 Häftlinge aus den KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen nach Brunshausen gebracht. Die ausschließlich männlichen Häftlinge gehörten 14 Nationen an. Den größten Teil stellten (in dieser Reihenfolge) Franzosen, Italiener, Russen und Polen. Auch einige Deutsche waren darunter. Das Durchschnittsalter lag bei 30 Jahren.
In diesem KZ-Außenkommando herrschten fürchterliche Bedingungen. Die Häftlinge wurden in die verfallende, eiskalte und bald völlig überfüllte Klosterkirche gesteckt und mussten sich selbst bei viel zu geringer Versorgung und klirrender Kälte ein Barackenlager auf dem Firmengelände bauen, das erst im Februar 1945 vollständig bezogen werden konnte. Der Arbeitstag, dessen Dauer der Vorgesetzte bestimmte, und die Zählappelle in der Kälte raubten die Kräfte, die aufgrund der äußerst dürftigen Ernährung ohnehin sehr geschwächt waren.
Hunger bestimmte das Leben der Häftlinge vollständig. Nachts mahlten die Gefangenen im Schlaf mit den Zähnen, erzählt der ehemalige Gefangene Willy Seman: »Wir träumten alle von Nahrung. Die Hälfte all unserer Gespräche kreiste ums Essen, die andere um die Frage: Werden wir hier jemals lebendig herauskommen?«
Mindestens 22 Häftlinge starben vor der Evakuierung des Lagers in Brunshausen.
Quelle: Museum der Stadt Bad Gandersheim/ Anne-Katrin Race
Das Massaker bei der Evakuierung
Im April 1945 befahl der NS-Gauleiter Hartmann Lauterbacher angesichts der näher rückenden alliierten Truppen, das KZ-Außenkommando aufzulösen und die kranken bzw. gehunfähigen Häftlinge zu erschießen. In den Morgenstunden des 4. April 1945 wurden 40 Häftlinge in den nahe gelegenen kleinen Wald gebracht und dort von SS-Männern erschossen.
»[Sie] schossen wild in die Gruppe der 40 Häftlinge hinein. [SS-Scharführer] Janke schoss aus einer Pistole und die übrigen Beiden aus je einer Maschinenpistole. Die beiden SS-Leute und Janke traten zwischen die am Boden liegenden und schreienden Häftlinge und gaben ihnen die Gnadenschüsse, die meistens im Genick gelegen haben. Ein Franzose mit verbundenem Kopf versuchte zu entkommen. Der (…) SS-Mann schoss ihm mit der Maschinenpistole nach. Der Franzose brach am Waldrand zusammen. Die Russen mussten ihn bis zur Grube bringen, wo Janke noch ein Mal auf ihn schoss.«
So beschrieb der Häftlings-Kapo Friedrich Sohl den Ablauf der Erschießungen 1948. Nach anderen Aussagen waren sämtliche Kapos – also auch Sohl selbst – an der Ermordung direkt beteiligt.
Die übrigen Häftlinge mussten einen »Todesmarsch« antreten, dessen Stationen unter anderem Zellerfeld, Wernigerode, Quedlinburg, Bitterfeld, Dresden, Aussig und Prag bildeten. Unterwegs kam es zu etlichen von der SS verübten Morden. Viele Häftlinge starben auf dem Marsch oder auf dem abschließenden Transport in Güterwaggons zum KZ Dachau. Am 27. April 1945, mehr als drei Wochen nach dem Abmarsch aus Brunshausen, erreichten 122 Männer des Außenkommandos das KZ Dachau. Viele von ihnen überlebten ihre zwei Tage später stattfindende Befreiung durch amerikanische Truppen nur um einige Wochen.
»Im 2. Weltkrieg ist das Kloster zunächst Kriegsgefangenenlager. Im Oktober 1944 richtet der nationalsozialistische Staat Brunshausen als Konzentrationslager ein. KZ-Häftlinge aus Buchenwald arbeiteten im benachbarten Rüstungsbetrieb. Die Kirche diente als Häftlingsunterkunft, der Hof als Appellplatz. Am 4. April 1945 müssen die 600 Gefangenen wegen der heranrückenden Befreier abmarschieren. 40 nicht gehfähige Häftlinge werden in den Clus-Wald getrieben, erschossen und verscharrt. Nach Kriegsende müssen Gandersheimer Frauen die Ermordeten mit den Händen ausgraben. Die Toten werden auf den Salzbergfriedhof umgebettet, wo ein Ehrenmal an das unmenschliche Geschehen erinnert.
Wer die Vergangenheit vergisst, ist verdammt, sie zu wiederholen.«
Quelle: Museum der Stadt Bad Gandersheim
Die Tafel an der Klosterkirche Brunshausen ist Ort der alljährlichen Erinnerung an die Ermordung der 40 KZ-Häftlinge. Auf dem Bild vom 6.4.2005 gedenken Carlo Bleichert, Ratsherr der Stadt Bad Gandersheim, Gigi und Paul Texier, Autoren der Studie »Bad Gandersheim. Autopsie eines Außenkommandos von Buchenwald« und Verwandte eines Überlebenden dieses Außenkommandos, und Anne-Kathrin Race vom Museum der Stadt Bad Gandersheim (von links) des Ereignisses im Rahmen einer Veranstaltungsreihe zu »60 Jahre Kriegsende«.
Der Weg zur Klosteranlage ist inzwischen nach Robert Antelme benannt, dem ehemaligen Häftling, der mit seinem literarischen Bericht »Das Menschengeschlecht« dem Außenkommando Brunshausen einen Platz in der Weltliteratur schuf.
Quelle: Museum der Stadt Bad Gandersheim