BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Dezember 2022 | Fundstücke Teaserbild

Der 21-jährige Edouard Violay muss in Hedemünden die Reichsbahn am Laufen halten

Während des Zweiten Weltkriegs transportiert die Deutsche Reichsbahn riesige Mengen an Menschen und Material: Täglich rollen 20.000 Truppentransporte und Güterzüge durch Europa. Der Druck auf die Eisenbahner ist enorm – und ohne den Einsatz von Zwangsarbeitenden nicht zu bewältigen. Menschen wie der französische Bahnunterhaltungsarbeiter Edouard Violay halten die Maschinerie in Gang. Gegen ihren Willen.

Die Deutsche Reichsbahn hat entscheidenden Anteil an zwei Kriegsverbrechen:
an den Deportationen der jüdischen Bevölkerung und der als „Zigeuner“ verfolgten Roma Europas sowie der Verschleppung der Zivilbevölkerung aus den besetzten europäischen Ländern zur Zwangsarbeit.

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Hochgezogene Lok, RAW Göttingen | Aufnahme aus den 1950er Jahren.
Fotoquelle: Städtisches Museum Göttingen

In Südniedersachsen gehört die Reichsbahn mit dem größten Betrieb Göttingens, dem Reichsbahnausbesserungswerk (RAW), und den Knotenbahnhöfen Kreiensen, Northeim und Göttingen zu den wichtigsten Arbeitgebern. Zwangsarbeitende werden in den Werkstätten, Bahnmeistereien, Personen- und Güterbahnhöfen sowie in Bauzügen eingesetzt. Die Nationalsozialisten nennen sie „Bahnunterhaltungsarbeiter“, „Werkstättenarbeiter“ oder „Hilfsschlosser“. Die Deutsche Reichsbahn verschiebt die Zwangsarbeitenden je nach aktuellem Bedarf rücksichtslos zwischen den verschiedenen Dienststellen und Lagern.

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Porträtbild von Edouard Violay
Fotoquelle: Stefan Schäfer, Hann. Münden

Edouard Violay in Leinefelde (Thüringen) und Hedemünden

13 junge Franzosen, die in ihrer Heimat bei der französischen Staatseisenbahn SNCF Dienst taten, müssen in Deutschland zunächst als Bahnunterhaltungsarbeiter für die Bahnmeisterei Leinefelde arbeiten. Einer von ihnen ist der 21-jährige Edouard Violay. Er hat keine abgeschlossene Ausbildung und beherrscht die deutsche Sprache nicht.

Am 7. Dezember 1943 werden die Männer nach Hann. Münden verschoben, um für die dortige Bahnmeisterei 2 zu arbeiten. Sie erhalten einen Stundenlohn von durchschnittlich 55 Reichspfennigen und werden im „Rappenhof“ in Hedemünden untergebracht. Den Arbeitsort aus eigenem Willen wechseln können die Franzosen nicht – bei „Arbeitsvertragsbruch“ droht die Einweisung in ein sogenanntes Arbeitserziehungslager.

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Eintragungen ins „Arbeitsbuch für Ausländer“ von Edouard Violay
Quelle: Stefan Schäfer, Hann. Münden

Gefahren für die Gesundheit

Zwangsarbeitende bei der Reichsbahn leiden oft unter furchtbaren Arbeitsbedingungen. Für die harte körperliche Arbeit gibt es selten genug zu essen. Dies gilt auch für die beiden großen Ausbesserungsbetriebe in Südniedersachsen, das RAW Göttingen und das noch im letzten Kriegsjahr von 245 Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion und den Niederlanden hochgezogene Kraftwagenausbesserungswerk (RKAW) Hedemünden. Aufgrund der hektischen und gesundheitsgefährdenden Arbeit, ungenügender Beleuchtung, fehlender Schutzbekleidung, Unterernährung und zunehmender körperlicher Erschöpfung kommt es zu Verletzungen und schweren Unfällen.

Tot aufgefunden

Zwei von Edouards französischen Kameraden bezahlen den erzwungenen Arbeitseinsatz in Südniedersachsen mit ihrem Leben. Am Abend des 13. Februar 1945 reparieren René Viktor Alphonse Herissant (22 Jahre) und Guy Bart (fünf Tage zuvor 23 Jahre alt geworden) Gleise an der Werrabrücke – es ist bereits dunkel. Ein Zug überrollt die beiden Männer. Die Angaben zur Todesursache, die das Standesamt notiert, könnten kaum lapidarer ausfallen:

„Auf dem Bahnkörper bei Kilometer 188,6 der Strecke Hann. Münden – Hedemünden im Gemeindebezirk Laubach tot aufgefunden.“

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Sterbeurkunde René Viktor Alphonse Herissant (Quelle ITS 271)

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Gräber-Verzeichnis für René Viktor Alphonse Herissant und Guy Bart (Quelle ITS 049)

In der Ausstellung Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945 erfahrt ihr, welche Rolle die Reichsbahn zur NS-Zeit in Südniedersachsen spielte. Inwiefern wurde sie als Fluchtmittel genutzt? Durften Zwangsarbeitende „einfach so“ Bahn fahren? Und waren gewöhnlichere Reisen, wie etwa in den Urlaub, für die deutsche Bevölkerung überhaupt noch möglich?