BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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März 2025 | Fundstücke

Drei ungarische Jüdinnen in Duderstadt: Weiterleben nach der Selektion

Von 1944 bis 1945 leisten 750 ungarische, polnische und tschechische Jüdinnen in Duderstadt Zwangsarbeit für das Rüstungsunternehmen Polte. Die Frauen gehören zu einem Außenkommando des KZ Buchenwald. Kurz zuvor haben sie Entsetzliches erlebt: die Selektion in Auschwitz-Birkenau. Katalin Rutkai, Ibolya Frisch und Emma Farkas sind drei von ihnen.

Im zweiten Weltkrieg ist Ungarn zunächst mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündet. Als die ungarische Führung über einen Wechsel auf die Seite der Alliierten nachdenkt, wird das Land am 19. März 1944 von der deutschen Wehrmacht besetzt. 400.000 jüdische Ungarinnen und Ungarn werden nach Auschwitz deportiert. Katalin Rutkai ist zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung 16-jährig, Ibolya Frisch ist 18 und Emma Farkas 19 Jahre alt. In filmischen Interviews erinnern sich die Frauen an die Selektion, die der Ermordung ihrer Angehörigen in dem Vernichtungslager vorangeht.

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Katalin Weinberger (verh. Rutkai) im Alter von ungefähr 14 Jahren.
Quelle: Katalin Rutkai, Miskolc

 
Keine Verabschiedung

Katalin Rutkai berichtet von ihrer Ankunft in Auschwitz:

„Wir sind angekommen. Es war ausgeschrieben: Auschwitz. Der Name verriet nicht viel, wir wussten nur, dass es nicht in Deutschland ist.“

Die neu Angekommenen werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Katalin ist nicht klar, dass es dabei um Weiterleben oder Sterben-Müssen geht:

„Ich weiß nicht, wie viele Meter wir gingen, ein SS-Mann saß dort. Und sofort, meine Mutter hin, mich her … ich konnte auch meiner Mutter nichts sagen. Alles ging so schnell, es war wie ein Blitzschlag. Ich wusste auch nicht, dass dieser Mann Mengele war.“

Katalins Eltern werden von den Nationalsozialisten ermordet.

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Katalin Rutkai zeigt ein Foto von sich und ihren Eltern.
Quelle: Katalin Rutkai, Miskolc

Auch Ibolya Frisch hat keine Gelegenheit, Abschied von ihrer Mutter zu nehmen:

„Vorne stand ein SS-Soldat, wir mussten vorbeigehen, er winkte nach rechts und links, mich auf eine Seite, meine Mutter auf die andere. Meine Mutter schrie: ‚Meine Tochter, meine Tochter.‘ Wir konnten uns so gar nicht verabschieden, dass wir uns hätten sagen können: ‚Gib acht!‘, nur voneinander gerissen wurden wir. Ich war – von dieser Sekunde an – wie erschlagen. Ich hörte nichts, ich sah nichts.“

Emma Farkas verliert in Auschwitz ihren Vater und ihre Schwester (mit ihrem kleinen Kind):

„Die Alten und diejenigen, die ein Kind hatten, auf die linke Seite, die Jüngeren auf die rechte. Ich und meine Geschwister, wir kamen auf die rechte Seite. Mein Vater sagte: ‚Kinder, passt auf das Gepäck auf!‘ Meine ältere Schwester stand neben ihm. Da sie ein Kind hatte, wurde die Mutter mit dem Kind zusammen ermordet.“

Katalin, Ibolya und Emma dagegen werden als arbeitsfähig selektiert. Sie sollen durch Sklavenarbeit in der Rüstungsindustrie ermordet worden. So kommen sie nach Südniedersachsen.

Das Weiterleben danach

Am 4. November 1944 erreichen die jungen Frauen das Duderstädter Außenkommando des KZ Buchenwald. In der hier ansässigen Rüstungsfabrik Polte müssen sie Zwangsarbeit leisten für das Regime, das ihre Angehörigen tötete.

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Heutiger Zustand des Einfahrtsbereichs der Polte-Werke Duderstadt.
Fotoquelle:Götz Hütt, Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V., 2009

Im April 1945 wird das Außenkommando evakuiert. Katalin, Ibolya und Emma werden ins KZ Theresienstadt deportiert: Mit Bussen bringen SS-Wachsoldaten sowie einige Aufseherinnen die Frauen zunächst nach Seesen, wo sie in einer Scheune nächtigen müssen. Von dort geht es in Güterwaggons weiter – ohne ausreichend Proviant. Katalin, Ibolya und Emma treffen am 26. oder 27. April 1945 in Theresienstadt ein. Am 8. und 9. Mai 1945 befreit die Rote Armee das KZ, die drei jungen Frauen werden nach Ungarn zurückgebracht.

Unter Mühen und unter dem steten Eindruck ihrer Erlebnisse bauen sich die drei Frauen neue Leben auf. Die traumatischen Geschehnisse wirken nach, prägen Gedanken und Gefühle. Die Last der Vergangenheit fasst Katalin in folgende Worte:

„Natürlich ist es einem eingefallen, jedem, wie Gott – wenn es überhaupt einen gibt – das, was geschah, erlauben konnte. Ich kann mich nicht erinnern an das, was vor zwei Tagen war, aber an das, was dort geschah … alles ist im Gehirn und bleibt dort lebenslang.“

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Katalin Rutkai im Jahr 2008.
Quelle: Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V

Katalin ist nach ihrer Rückkehr als Hutmacherin, Verkäuferin und Kassiererin tätig. Mit ihrem Ehemann hat sie drei Kinder, von denen eines wegen einer Behinderung 1953 stirbt. Nach dem Tod des Mannes im Jahr 1963 ist Katalin alleinerziehend. Sie behält nach dem Krieg ein Kleid ihrer getöteten Mutter, besucht an Festtagen die Synagoge.

Emma heiratet, bekommt zwei Söhne und arbeitet als Friseurin.

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Ibolya Frisch im Jahr 2008
Quelle: Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V

Ibolya lebt bis August 1946 in einem Sanatorium. Im selben Monat kehrt ihr Vater aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück. Sie arbeitet als Buchhalterin, heiratet und wird Mutter eines Sohnes.

Eingangsbereich
Im Eingangsbereich unserer Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ befinden sich Teile einer Baracke des Duderstädter Außenkommandos. Hier mussten Katalin, Ibolya und Emma – unter Aufsicht der SS – hausen.