BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Oktober 2025 | Erinnern und Gedenken Teaserbild

„Wenn Menschen jung sind, dann wollen sie leben“

März 1943: In den Niederlanden werden die Studierenden von den deutschen Besatzungsbehörden aufgefordert, eine Loyalitätserklärung zu unterschreiben, mit der sie sich den Besatzungsbehörden unterwerfen. Jan Klompenhouwer, Student des Zivilingenieurswesens an der „Technische Hogeschool van Delft“, weigert sich, genauso wie der Großteil der etwa 14.600 niederländischen Studierenden. Ungefähr 3.000 Studenten werden daraufhin ins Deutsche Reich zur Zwangsarbeit verschleppt. Jan Klompenhouwer ist einer von ihnen.

Nach einem Radurlaub aus Anlass seines Schulabschlusses ist Jan Klompenhouwer am 3. September 1939 wieder in Rotterdam angekommen. Er erfährt aus dem Radio, dass das Deutsche Reich Polen überfallen hat. Noch aber ist der Krieg ein Krieg der Anderen, für Jan beginnt erst einmal das Studium. Er studiert in Delft, in Fahrradnähe des Elternhauses, möchte Zivilingenieur werden. Das Land liegt unterhalb des Meeresspiegels, daher sind Ingenieure gefragt, die das Wasser der Nordsee zu bändigen helfen. Doch schon acht Monate später – am 10. Mai 1940 – überfällt das Deutsche Reich die Niederlande, nach nur fünf Tagen folgt die Kapitulation. Ein entscheidender Punkt ist die Bombardierung Rotterdams, Jan Klompenhouwer erinnert sich:

 Jan Klompenhouwer 1939

„Das war so am Anfang. Am 14. Mai, als wir beim Mittagessen waren, kamen die Flugzeuge, zwei schwere Geschwader aus Deutschland, und bombardierten die Stadt. Warum bombardierten sie wohl? Die Deutschen hatten nicht erwartet, dass Holland, die hundert Jahre keinen Krieg gehabt haben, dass sie sich tatsächlich verteidigen wollten.“



Jan Klompenhouwer im Jahr 1939
Quelle: Marie-Christine Klompenhouwer, Niederlande

Kurz nach der Kapitulation der Niederlande geht das Leben zunächst weiter. Jan resümiert:

„Der Krieg bei uns war nach fünf Tagen vorüber. Und der deutsche Empfang war ganz freundlich, denn wir waren ‚Germanen‘! Ja, ja! Ein früher Fall, dass man mit Bomben liebte.“

Die deutschen Besatzer wollen den Eindruck eines normalen Lebens für die niederländische Bevölkerung aufrechterhalten, doch nach und nach beginnt die Verfolgung von jüdischen Menschen auch in den Niederlanden. Im November 1940 kündigen die deutschen Besatzer dann ein Berufsverbot für jüdische Menschen an. An der Universität in Delft wird am 22. November 1940 die jüdische Professorenschaft vom Direktor der Universität über ihre Entlassung informiert.

Jan Klompenhouwer erzählt:

„An einem Samstagmorgen wollte ich eine Vorlesung hören: Staatsrecht bei Professor Doktor Josephus Jitta. Es ging um die Verfassungen verschiedener Länder wie Frankreich, Holland, Russland – über Deutschland sprach er nicht – und Amerika, darum, wie die Verfassung den Rahmen für die Gesellschaft bildet und die Garantie für Recht und Gerechtigkeit. Das war immer sehr interessant und anregend. Man langweilte sich niemals bei ihm.“

Aber auch diese Vorlesung ist bereits verboten. Eine Gruppe von Studierenden stellt sich deshalb in der Halle oben auf die Treppe und richtet das Wort an die Menschen. Jan van Blerkom, Charles Hugenholtz und Frans van Hasselt verurteilen die Kündigungen. Frans van Hasselt schließt seine Rede mit einem Zitat aus dem Matthäus-Evangelium: „Selig sind diejenigen, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden. Selig sind diejenigen, die verfolgt werden wegen ihres Willens zur Gerechtigkeit, denn ihnen gehört das Himmelreich.

Mit einem Streik wollen die Studierenden in Delft und Leiden erzwingen, dass die jüdischen Dozierenden weiter lehren dürfen. Aber sie haben keinen Erfolg und so geht das Studium weiter. Während sich der Antisemitismus der Besatzer immer deutlicher zeigt, versucht Jan Klompenhouwer, seinen jüdischen Freund*innen zu helfen. Denn Glaubensfreiheit ist ihm sehr wichtig.

Im März 1943 sollen alle 15.000 niederländischen Studierenden eine Erklärung unterzeichnen, mit der sie sich den Besatzungsbehörden gegenüber loyal erklären. Die meisten weigern sich, so auch Jan Klompenhouwer. In der Folge wird er nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt, muss unter anderem im Göttinger Flakzeugamt schuften. Erst Mitte April 1945 wird er in Leipzig befreit.

Nach ihrer Rückkehr beteiligen sich Jan und die anderen zurückgekehrten Zwangsarbeiter am Wiederaufbau der Niederlande. Johan Willem Tops, ein Kommilitone von Jan, hilft nach dem Studium beim Aufbau der Deltawerke, dem Hochwasserschutzsystem der Niederlande, in Oosterschelde. Wie viele von Jans Mithäftlingen ist Johan Willem Tops jung gestorben. Jan Klompenhouwer resümiert im Jahr 2006:

„61 Jahre später, ich bin noch immer da – aber wo sind meine Kollegen von damals?“

Oosterscheldekering_web 
Das Ir. J.W. Tops-Huis auf Neeltje Jans ist nach Johan Willhelm Tops benannt. Er war von 1974 bis zu seinem Tod 1981 Generaldirektor der Rijkswaterstaat. In seiner Zeit bei der Rijkswaterstaat ist er verantwortlich für die Errichtung des Oosterscheldekering in Zeeland, dem größten Wasserschutzprojekt der Niederlande des 20. Jahrhunderts. Jan Klompenhouwer war während seiner Zeit als Zwangsarbeiter beeindruckt von Johan Willhelm Tops‘ Standhaftigkeit.
Quelle: Isaï Symens, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>,
Wikimedia Commons

Die Erlebnisse der Kriegszeit prägen sein gesamtes Leben. Jan Klompenhouwer will sich einsetzen für ein friedliches Miteinander und wird Lehrer im höheren Schulwesen der Niederlande. Darüber hinaus engagiert er sich im Verband der Lehrer*innen an höheren Schulen und in der Kommunalpolitik. Für seine Student*innen ist er ein engagierter Lehrer, der sie immer wieder inspirieren kann. Junge Menschen zu erreichen, bleibt ihm zeitlebens wichtig. So beginnt er ein Interview im Oktober 2007 mit den Worten:

„Es freut mich sehr, dass ich endlich nach so vielen Jahren mich noch mal aussprechen kann über meine Erlebnisse in diesen Jahren. Und es freut mich sehr, dass ich das, was ich hier zu sagen habe, auch jungen deutschen Menschen sagen kann. Wenn Menschen jung sind, dann wollen sie leben. Und sie wollen möglichst gut leben.“

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Jan Klompenhouwer ist ein engagierter Lehrer. Auf dem Bild sehen wir ihn mit einigen seiner Student*innen. Quelle: Kees Klompenhouwer, Niederlande

Er kann aber auch hart und unerbittlich sein. Mit Deutschen will er selbst nichts mehr zu tun haben:

„Ein Gefühl, mit den Deutschen werde ich nichts mehr machen. Absolut nichts. Es gab sicherlich auch Gute, aber ich habe nur die Schlechten gesehen.“

Trotzdem wünscht er sich eine niederländisch-deutsche Zusammenarbeit und sieht diese auch in vielen kleinen Handlungen. Insbesondere die Begegnung mit einer Schulklasse aus Deutschland, der er seine Geschichte erzählen kann, verändert seine Position. 2007 zieht er Bilanz:

„Also, die Vernunft hat gewonnen vor der Passion. Und das ist auch richtig.“

Was Jan Klompenhouwer während seiner Zeit als Zwangsarbeiter erlebt hat, wie er davor und danach gelebt hat – das könnt Ihr in unserer neuen Ausstellungsinstallation erfahren. Am 2. November 2025 stellen wir gemeinsam mit seinen Nachkommen einen Museumskoffer über sein Leben vor.

 

Sonntag, 2. November 2025 | 14:30 Uhr

Jan Gerrit Klompenhouwer: Ein Leben

Widerstand. Deportation. Zwangsarbeit. koffer_web_freigestellt_IMG_1572
Diese Erfahrungen prägen Jan Gerrit Klompenhouwer und seine Familie über Generationen hinweg. Der Niederländer, der im Zweiten Weltkrieg zur Zwangsarbeit nach Südniedersachsen verschleppt wurde, engagiert sich lebenslang für Demokratie, Bildung und Verantwortung.
Eine neue multimediale Installation erzählt von seiner Geschichte, stellvertretend für Hunderttausende, die Ähnliches erleben mussten. Gemeinsam mit seinen Kindern und Enkeln wird die Installation eröffnet. Im Gespräch mit seinen Kindern und einer Enkelin werden Erinnerungen und Perspektiven auf das Wirken von Jan Gerrit Klompenhouwer lebendig. Musikalisch begleitet wird der Nachmittag von Carla Dewald.

Die Veranstaltung wird zweisprachig, auf Deutsch und Englisch, durchgeführt.

Der Eintritt zur Ausstellung und zur Veranstaltung ist frei, um eine Spende wird gebeten.

Veranstaltet von der Geschichtswerkstatt Göttingen und der Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-45“
Gefördert durch die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, die Göttinger Veranstaltungsreihe „Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus“ und die Geschichtswerkstatt Göttingen