Juli 2025 | Neues aus der Forschung
Entrechtet und eingesperrt: Zwangsarbeiter*innen im Göttinger Gefängnis
Das seit Jahren leerstehende Gebäude der ehemaligen Justizvollzugsanstalt (JVA) Göttingen am Waageplatz/Obere Masch Straße diente während des Zweiten Weltkriegs als Gerichtsgefängnis. Viele Zwangsarbeiter*innen saßen hier ein. Wer waren diese Menschen, welches Schicksal führte sie in dieses Gefängnis und wie ging es für sie weiter?
Das einzige zugängliche Gefangenenbuch des Gerichtsgefängnisses Göttingen nennt für den Zeitraum eines Jahres (vom 1. April 1943 bis zum 31. März 1944) 537 Gefangene. Bei 201 von ihnen – das sind mehr als 37 Prozent – ist so gut wie sicher, dass sie eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit hatten. Bei den allermeisten dieser Menschen dürfte es sich um Zwangsarbeiter*innen gehandelt haben.
Nach dem Krieg wurden für die Alliierten Listen mit den Namen der ausländischen Insassen des Gerichtsgefängnisses zusammengestellt, für die gesamte Kriegsdauer und nach Nationalitäten getrennt. Diese Listen befinden sich heute in den Arolsen Archives und sind auch online einsehbar. 787 Gefangene sind darin aufgeführt. Fast die Hälfte (48%) kam aus Polen, gut ein Viertel (25,5 %) aus der Sowjetunion (einschließlich Ukraine) – zusammen machten diese also fast drei Viertel der ausländischen Gefangenen aus. Aus den westeuropäischen Staaten Frankreich, Niederlande und Belgien stammte dagegen insgesamt nur ein Sechstel (16,7 %). Dieses Ungleichgewicht wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass Pol*innen und in noch stärkerem Maße „Ostarbeiter*innen“ oft ohne Zwischenstation in einem Gerichtsgefängnis direkt in Straflager wie die berüchtigten „Arbeitserziehungslager“ (AEL) der Gestapo oder die ebenso grauenhaften „Konzentrationslager“ der SS gebracht wurden.
Sonderstrafrecht und ständige Überwachung
Ausländische Zwangsarbeiter*innen galten im nationalsozialistischen Deutschland als Feinde. Aus Osteuropa stammende Menschen ordnete man dem Konstrukt einer slawischen „Rasse“ zu, die „minderwertig“ und daher im Interesse der Herrschaft der „höherwertigen“ eigenen „Rasse“ zu bekämpfen, ja letztlich auszulöschen sei. Zuvor sollte die Arbeitskraft der Osteuropäer*innen aber noch ausgebeutet werden. Doch auch Menschen, die von den Nazis als „arisch“ eingestuft wurden und deren Anwesenheit im Reich deshalb an sich positiv gesehen wurde (z. B. Niederländer*innen), unterlagen misstrauischer Überwachung. Denn es hatte sich gezeigt, dass sie den an sie gerichteten Erwartungen beim Aufbau eines nationalsozialistischen Europa in der Regel widerstanden. Daher – und nicht aufgrund moralischer oder rechtlicher Bedenken – war ihr Einsatz als Zwangsarbeiter*innen im Land auch nicht unumstritten.
Der grundsätzlichen Haltung, eigentlich keine „Fremdvölkischen“ im Reich haben zu wollen, stand das Interesse an der Ausbeutung der Arbeitskraft entgegen. Resultat dieses Konflikts war ein Sonderstrafrecht für Pol*innen und „Ostarbeiter“ sowie die möglichst lückenlose Überwachung aller Ausländer*innen. Diese erfolgte in enger Abstimmung zwischen Polizei, Justiz, Arbeitsämtern, politischer Verwaltung (Landräte, Bürgermeister), Betrieben/Einsatzstellen und Partei. Dabei konnte die Gestapo vollkommen willkürlich handeln und tat dies umso leichter, als die Justiz ihr im Krieg „die Strafverfolgung gegen Polen, Russen, Juden und Zigeuner“ (Reichsjustizminister Thierack 1942) überließ.
„Zur Überwachung dieser Massnahmen ordne ich daher hiermit an, dass in jeder Gemeinde durch den Bürgermeister im Benehmen mit dem Ortsbauernführer und der örtlichen Leitung der SA ein ständiges Rollkommando, bestehend aus 3 handfesten Bauern (möglichst ältere SA-Leute) sofort eingesetzt wird, dem die Aufgabe zufällt, an mehreren Abenden der Woche durch Rundgänge im Dorfe und durch Stichproben in den Quartieren die Einhaltung der Bestimmungen der Polizeiverordnung zu kontrollieren.“
Der Landrat des Kreises Münden kurz nach der Veröffentlichung der „Polenerlasse“ vom 8.3.1940 (Schreiben vom 20.6.1940)
Ungefähr die Hälfte des Gestapo-Personals war mit der Überwachung von Zwangsarbeiter*innen beschäftigt. Die lokalen Polizei- und Gerichtsgefängnisse füllten sich immer stärker. Von dort wurden die ausländischen Häftlinge vielfach mit dem Ziel der Abschreckung in ein „Arbeitserziehungslager“ oder zur Vernichtung durch Arbeit ins KZ eingewiesen. Parallel gab es zahlreiche außergerichtliche Exekutionen.
Zwischenstation auf dem Weg ins KZ
Gewiss sind nicht alle ausländischen Insassen des Göttinger Gerichtsgefängnisses gezwungenermaßen nach Deutschland gekommen. Die Gefangenenbücher und Listen geben über die einzelnen Schicksale und die Gesinnung der Verhafteten jedoch keine Auskunft. Aufschluss bringen aber bisweilen andere Quellen. Nach einem Abgleich mit unserer internen Datenbank zu NS-Zwangsarbeiter*innen in Südniedersachsen möchten wir hier einige Beispiele vorstellen.
Am 7. Juli 1943 wurden die jungen Ukrainerinnen Ludmila Dodalko und Maria Kloczko von der Gestapo ins Göttinger Gefängnis eingeliefert. Zu diesem Zeitpunkt waren sie 19 bzw. 18 Jahre alt. Maria Kloczko war erst eine Woche zuvor nach Hann. Münden gekommen, wo die Frauen als „Bahnunterhaltungsarbeiter“ für die Bahnmeisterei 1 der Deutschen Reichsbahn arbeiten mussten. Hier wurden mehr als 40 Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion eingesetzt. Untergebracht waren sie in Baracken gleich hinter dem Bahnhof. Die Arbeit war hart, die Versorgung mit Lebensmitteln schlecht. Die Zwangsarbeiter*innen wurden von der Mündener Gendarmerie regelmäßig überwacht. Mehrere von ihnen starben.
Nach einer Woche im Gerichtsgefängnis wurden die beiden Ukrainerinnen in das „Frauenlager Watenstedt“ gebracht. In diesem „Arbeitserziehungslager“ mussten sie mehrere Wochen schwerste Strafhaft überstehen, bevor sie wieder an ihren alten Zwangsarbeitsplatz zurückgeschickt wurden. Im September 1944 wurden sie dann an einen anderen Arbeitsplatz in der Zuständigkeit der Reichsbahndirektion Kassel versetzt.
Maria Greschel (geboren in 28.5.1907 in Wileyka) stammt aus demselben Ort wie Katharina Domalewska, kam mit demselben Transport wie sie nach Hann. Münden und musste ebenfalls bei der Bahnmeisterei 1 Hann. Münden arbeiten. Quelle: Stadtarchiv Hann Münden MR 1490.
Trotz des erwünschten Abschreckungseffekts durch Häftlinge, die in sehr schlechter Verfassung aus den AEL an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten, kam es bei der Bahnmeisterei 1 Hann. Münden zu weiteren Vorfällen, darunter über ein Jahr später, am 26. September 1944, zur Verhaftung Katharina Domalewskas. Zu diesem Zeitpunkt war die angehende Schneiderin aus der Ukraine unterschiedlichen Angaben zufolge 18, 22 oder 24 Jahre alt und befand sich erst seit zweieinhalb Monaten in Hann. Münden. Drei Tage lang war sie nun Gefangene im Mündener Polizeigefängnis, von wo die Gestapo sie zur „Schutzhaft“ ins Gerichtsgefängnis Göttingen brachte. Hier blieb sie zwei Wochen inhaftiert und wurde dann von der Gestapo „abgeholt“. Was mit Katharina Domalewska im Zeitraum vom 12. Oktober bis zum 10. Dezember 1944 geschah, ist unklar. Im Dezember 1944 jedenfalls wurde die nur 1,50 Meter große Frau zum „Arbeitseinsatz“ in das KZ Ravensbrück eingeliefert. Noch am 7. März 1945 überstellte die SS sie an das KZ Mauthausen.
Häftlingspersonalkarte des KZ Ravensbrück für Katharina Domalewska. Das dort angegebene Einweisungsdatum der Gestapo 26.1.1945 ist falsch, Katharina Domalewska kam bereits am 10.12.1944 nach Ravensbrück. Quelle: Arolsen Archives, DocID 1868518.
Unbekannte Schicksale
Am selben Tag, an dem die Gestapo Katharina Domalewska aus dem Gerichtsgefängnis Göttingen abholte, am 12. Oktober 1944, wurde Jan (oder Jean) Decombel dort eingeliefert. Der 23-jährige Belgier war ein Jahr zuvor zur berüchtigten Großbaustelle der Schickertwerke in Rhumspringe gekommen, wo er für das Bauunternehmen Hochtief als Eisenflechter arbeiten musste – bis zu seiner Inhaftierung. Aus Göttingen wurde er nach Hannover entlassen, sicherlich zur weiteren „Behandlung“ durch die Gestapo. Die AOK Osterode meldete Decombel erst nach der Befreiung vom Nationalsozialismus aus Rhumspringe ab, aber es bleibt ungewiss, ob er nach seiner Verhaftung überhaupt noch einmal hierher zurückkehren konnte. Gemeinsam mit ihm wurden zwei weitere Franzosen – der Hilfsmaurer Marius Palmont und der Eisenflechter Maurice Gaillard – in Rhumspringe verhaftet, erst ins Gerichtsgefängnis und anschließend nach Hannover verbracht; das Weitere ist auch bei ihnen unklar.
Jan (oder Jean) Decombel steht auf Platz 5 der Liste der Gefangenen aus dem Landesgerichtsgefängnis Göttingen. Quelle: Arolsen Archives, DocID 11337427.
Unmittelbar vor Fertigstellung der Schickertwerke in Rhumspringe nahmen US-Truppen den Ort im April 1945 ein. Fotoquelle: H.J. van Melick, Neer
Die Baustelle der Schickertwerke Rhumspringe war einer der größten und übelsten Zwangsarbeitsplätze in der Region. Alle Ausländer dort litten unter dem brutalen Werkschutz, der allgegenwärtigen Gestapo, der schweren körperlichen Arbeit, schlimmen hygienischen Verhältnissen in den Baracken und starkem Hunger. Viele Zwangsarbeiter wurden krank oder starben. Es gibt aber auch Hinweise auf Widerstandshandlungen. Der junge polnische Zwangsarbeiter Władysław Sarapata wurde nach einer Denunziation durch Angestellte von Hochtief von der Gestapo ins AEL Liebenau eingeliefert. Er sollte Sabotage verübt haben. Nach einigen Wochen Haft im Lager brachte man Sarapata wieder nach Rhumspringe und erhängte ihn dort öffentlich. Die übrigen Zwangsarbeiter mussten zusehen.
Auch eine gemeinsame Verhaftung mehrerer Zwangsarbeiter wie bei Jean Decombel, Marius Palmont und Maurice Gaillard könnte auf eine Widerstandstätigkeit hindeuten.
Verurteilt, weil er die BBC-Nachrichten gehört hatte
Über den jungen Niederländer Geert Eiting enthält die für die Alliierten erstellte Liste neben den Angaben zur Person nur die Information, dass er von der Staatsanwaltschaft Hannover wegen eines „Rundfunkverbrechens“ angeklagt, vom Gericht zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus verurteilt und im Juni 1944 aus dem Gerichtsgefängnis Göttingen ins Zuchthaus Celle verbracht wurde. Aus den ihn betreffenden Sondergerichtsakten ergibt sich ein klareres Bild: Geert Eiting war das älteste von fünf Kindern, machte nach der Volksschule eine Tischlerlehre und wurde vom Meister übernommen. Im Juni 1943 wurde er zur Zwangsarbeit in Deutschland verpflichtet, und zwar bei den Physikalischen Werkstätten (Phywe) in Göttingen, wo er Akkordarbeit leisten musste. Untergebracht war er privat bei einer Kriegerwitwe in Grone.
Am 4. Oktober 1943 schrieb der damals 21-Jährige in einem Brief an die Nachbarn seiner Eltern in den Niederlanden (übersetzt): „Ich halte mich hier schon noch aufrecht, verstehst du, Ricks, Du weißt wohl, was ich meine, nicht wahr? Denn hier ist manchmal auch ein feines Stückchen Musik im Radio. Das Radio ist für mich alles in dieser Zeit; nun ja, es heißt wohl aufpassen […]. – Bald können wir für gut nach Hause gehen; ich denke wohl, dass es bald zu Ende sein wird.“ Diesen Brief fing die Auslands-Briefprüfstelle Köln ab und informierte die Gestapo, die Geert Eiting im Dezember 1943 verhaftete. Die Gestapo ermittelte, dass Geert Eiting einige Male die 20-Uhr-Nachrichten der BBC gehört hatte, und dies im Beisein von belgischen und niederländischen Arbeitskollegen. So kam es zum Prozess gegen ihn vor dem Sondergericht Hannover und zu seiner Verurteilung.
Geert Eiting saß ein halbes Jahr in Untersuchungshaft im Göttinger Gerichtsgefängnis. In dieser Zeit musste er Zwangsarbeit in der Stadt verrichten – das dürfte auf viele Häftlinge des Gerichtsgefängnisses zutreffen. Aus seiner Haftzeit im Göttinger Gefängnis sind diverse zu Herzen gehende Briefe an Familie und Freunde und auch deren Antworten erhalten.
Nach dem Urteil des Sondergerichts wurde Geert Eiting ins Zuchthaus Celle überstellt. Am 9. Februar 1945 hatte er seine Zuchthausstrafe abgesessen. Aber anstatt in die Freiheit oder zumindest zurück zur Zwangsarbeit nach Göttingen entlassen zu werden, wurde er – wie so viele seiner Schicksalsgenossen – von der Gestapo abgeholt. Was diese mit dem Niederländer machte, ist unbekannt. Schon 1950 wusste die Oberstaatsanwaltschaft Hannover auf eine Suchanfrage der International Refugee Organisation nichts Genaues zu antworten, was das Schlimmste nahelegt.
Geert Eiting steht auf Platz 6 der Liste der Gefangenen aus dem Landesgerichtsgefängnis Göttingen. Quelle: Arolsen Archives, DocID 11337458.
An die NS-Geschichte erinnert bislang nichts
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Inhaftierung im Gerichtsgefängnis Göttingen für Zwangsarbeiter*innen im Zweiten Weltkrieg oft nur eine Zwischenstation bildete, der viel zu häufig weit Schlimmeres folgen sollte. Das Gebäude, in dem die Zwangsarbeiter*innen auf dieser Etappe eingesperrt waren, existiert heute noch. Mitten in Göttingen gelegen, steht es seit 2007 leer. Über die weitere Nutzung wird immer wieder diskutiert.
Das ehemalige Gerichtsgefängnis Göttingen war ein Ort der Repression gegen eine ohnehin entrechtete Gruppe von Menschen, ein Ort der Opfer der NS-Diktatur. Daran erinnert gegenwärtig nichts. Wie auch immer die Entscheidung für eine zukünftige Nutzung ausfällt, dieser Aspekt der Geschichte des Gebäudes sollte unbedingt Berücksichtigung finden.
Luftaufnahme vom Waageplatz in Göttingen aus der Zeit der NS-Herrschaft. Die Blickrichtung geht nach Süden. Links der Leinekanal, zentral der Waageplatz (noch ohne Brunnen). Das große Gebäude am rechten Bildrand beherbergt auf seiner östlichen (linken) Seite die Staatsanwaltschaft Göttingen. Auf dem dach ist die Hakenkreuzfahne gehisst (hier nachträglich verpixelt). In den beiden Seitenflügeln und dem westlichen Quergebäude befand sich bis 2007 die JVA Göttingen, früher Gerichtsgefängnis. Seit dem Neubau der JVA bei Rosdorf steht dieser Teil des Gebäudes leer.
Quelle: Städtisches Museum Göttingen, Inventarnummer FS.T. 09744
Listen der Gefangenen aus dem Landesgerichtsgefängnis Göttingen. Katharina Domalewska steht auf Platz 16 der ersten Liste, Ludmila Dodalko auf Platz 21 der zweiten Liste, Maria Kloczko auf Platz 44 der dritten Liste und Marius Palmont sowie Maurice Gaillard auf den Plätzen 15 und 16 der vierten Liste.
Quelle: Arolsen Archives, DocID 11337495; 11337496; 11337498; 11337439
Weitere Informationen:
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