Mai 2022 | Neuigkeiten | Erinnern und Gedenken
Ivo Piaserico | Erinnern und Gedenken für die Gegenwart – Nein zum Krieg!
Der 8. Mai 1945 markiert mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und damit auch die Befreiung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. An diesem Tag hat der junge Eisenbahner Ivo Piaserico die Stätten seines Leidens in Südniedersachsen bereits weit hinter sich gelassen und über die Hälfte seines Heimwegs nach Italien zurückgelegt.
Ivo Piaserico als Soldat beim Militärdienst 1943. Fotoquelle: Ivo Piaserico
Knapp zwei Jahre der Gefangenschaft, der Zwangsarbeit und der Demütigungen und Anfeindungen als „Verräter“ in Deutschland liegen hinter ihm: Am 9. September 1943 war Ivo Piaserico als Soldat von der deutschen Wehrmacht in Friaul gefangen genommen worden. Hier in der nordostitalienischen Region leistete der 1922 geborene Venezianer, der nach seiner Ausbildung zunächst als Stationsassistent auf dem Bahnhof von Venedig gearbeitet hatte, seinen Militärdienst ab.
Wenige Tage vor seiner Gefangennahme hatte Italien nach dem Sturz Mussolinis kapituliert und das Bündnis mit dem Deutschen Reich aufgekündigt. Daraufhin besetzte die Wehrmacht Italien, befreite Mussolini und verschleppte Hunderttausende italienische Soldaten nach Deutschland – auch Ivo Piaserico. Zusammen mit 2.500 weiteren italienischen Gefangenen wird er in Viehwaggons in das Gefangenenlager XI B Fallingbostel transportiert, von wo aus er am 30. September 1943 zum Arbeitskommando 6008 Rhumspringe mit Lager im benachbarten Hilkerode gebracht wird. Der offizielle Status der Italiener lautet „Italienische Militärinternierte“ (IMI). Damit sind sie den Schutzvorschriften der Genfer Konvention für Kriegsgefangene entzogen.
Blick vom Wachturm auf den Haupteingang des Stalag XI B Fallingbostel (undatiert)
Fotoquelle:Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/Dokumentationsstelle Celle
Ein Jahr lang muss Ivo Piaserico zusammen mit bis zu 600 weiteren IMIs und Hunderten anderer Zwangsarbeiter auf der Rhumspringer Großbaustelle der Schickertwerke arbeiten bis zum Umfallen, damit hier möglichst schnell Treibstoff für Düsen- und Raketenflugzeuge produziert werden kann. „Ich habe immer mit Schaufel und Spitzhacke im Freien gearbeitet und bei jeder Witterung Karren mit Erde beladen“, beschreibt er seine Arbeit im Rückblick. Hunger, Erschöpfung, Not, Krankheiten und Tod prägen die Zeit in Rhumspringe und Hilkerode.
„Zwei Jahre lang war ich immer in Baracken untergebracht; die schlimmsten in Hilkerode, wo uns Läuse und Wanzen plagten, Waschbecken und Toiletten fehlten. Ich hatte nur ein Paar Schuhe, eine Jacke und eine Hose, mit denen ich am 9. September 1943 aus Italien losgefahren bin. Zu essen gab es morgens eine Kelle heißen Getränks, leicht gesüßt. Mittags NICHTS. Abends eine Rüben- und Gemüsesuppe, 20 gr. Margarine und ein Fünftel Kommissbrot, das sorgfältig abgeschnitten und auf einer von uns angefertigten Waage gewogen wurde. An manchen Tagen habe ich furchtbar unter Hunger gelitten. Ich erinnere mich, dass ich nur Weihnachten 1943 einen Löffel Hackfleisch bekommen habe. In Hilkerode haben wir an einem einzigen Tag drei unserer Kameraden, die wie Kerzen verlöscht waren, auf den Friedhof getragen. Ich hatte einige Augenblicke der Verzweiflung, als ich voller Schmerzen in den Gelenken nicht gehen konnte und ein Skelett geworden war.“
„Mich rettete, dass ich von Rhumspringe nach Bad Lauterberg versetzt wurde (vom Arbeitskommando 6008 nach 6032 im August 1944), um als Fachelektriker eingesetzt zu werden. In der neuen Umgebung habe ich angemessene Arbeit gefunden und viel Menschlichkeit. Man hat mir sogar neue Kleidung gegeben, denn das Alte, das ich trug, war nur noch ein Fetzen.“
Gräber von Italienern, die die Zwangsarbeit im Arbeitskommando 6008 nicht überlebt haben, auf dem Friedhof von Hilkerode. Die Gräber existieren nicht mehr, die Leichen wurden auf den Ehrenfriedhof Hamburg-Öjendorf umgebettet.
Fotoquelle: Nachlass Giuseppe Chiampo, Padova
Im Hauptwerk der Firma Otto Schickert in Bad Lauterberg-Odertal arbeitet Ivo Piaserico bis Ende 1944, dann setzt ihn die Stadt Bad Lauterberg „als Holzhauer, als Hilfsarbeiter der deutschen Maurer, für die ich die Kloaken reinigen musste usw.“, ein. Die Kämpfe um die Stadt Anfang April 1945 erlebt Ivo Piaserico versteckt und ohne Essen in einem Bergschacht bei Odertal. Nach der Befreiung glückt es ihm, bis ins bayrische Mittenwald zu kommen, wo er wochenlang auf die Weiterreise warten muss. Am 29. August 1945 kann er schließlich seine Mutter und seine beiden Schwestern in Vicenza in die Arme schließen. Einige Wochen später arbeitet er wieder bei der Eisenbahn, nun als Gleisbauer.
Ivo Piaserico spricht Jahrzehnte später genau und differenziert von seiner Gefangenschaft in Südniedersachsen.
„Ich erinnere mich an diese furchtbare Zeit meiner Jugend wegen so viel erlittener Mühsal und so viel erlittenem Hunger. Ich erinnere mich aber auch mit viel Rührung daran, wie ich in Bad Lauterberg mit Maurern gearbeitet habe, die um die Mittagszeit zum Essen nach Hause gingen, während ich dort sitzen blieb. Da kamen Kinder vorbei und brachten mir Pellkartoffeln. Und manchmal kamen Mütter und brachten mir etwas zu essen mit den Worten: ‚Ich hoffe, dass auch meinem Sohn in Afrika oder Russland eine Mutter etwas zu essen gibt.‘“
Ivo Piaserico auf dem Friedhof Hilkerode, auf dem er einige seiner Kameraden verabschieden musste. Foto: Rosanna Böning
Den Gedenkstein in Hilkerode und die Zwangsarbeits-Ausstellung in Göttingen sieht er als „ein großes Zeichen.“ Bei einem Besuch in Hilkerode 2003 konstatierte Ivo Piaserico, was im Jahr 2022 aktueller kaum sein könnte:
„Es ist wichtig, unsere heutige Jugend über die damaligen Ereignisse zu informieren. Es ist wichtig zu wissen, wie hart und unmenschlich Kriege sind, damit wir besser handeln und geschlossener auftreten und sagen können: ‚Nein, wir wollen keinen Krieg!‘“
Der Text der Platte auf dem Gedenkstein am Pfingstanger in Hilkerode, dem früheren Standort des Zwangsarbeitslagers.
Videobotschaft | Ivo Piaserico
Zur Eröffnung der Dauerausstellung "Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945" am 17.4.2015, 70 Jahre nach der Befreiung Südniedersachsens vom Nationalsozialismus im April 1945, wollte Ivo Piaserico aus Italien anreisen und von seinen Erlebnissen berichten. Krankheitsbedingt musste er kurzfristig auf die Reise verzichten, konnte aber eine kurze Videobotschaft übermitteln, in der er vor allem auf die Einweihung eines Gedenksteins am Pfingstanger in Hilkerode im Jahr 2005 zurückblickt.
Über einige technische Mängel bitten wir hinwegzusehen.
In der Ausstellung Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945 erfahrt ihr mehr über die Situation der Zwangsarbeiter aus Italien und anderen Ländern auf der Baustelle Rhumspringe.