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Februar 2022 | Neues aus der Recherche Teaserbild

Viele alliierte Kriegsgefangene sterben in Duderstädter Ziegelei

Im Februar 1945 evakuiert die Wehrmacht viele ihrer Gefangenenlager vor den immer näher rückenden Truppen der Alliierten. Aus Sagan (Stalag XIII C) und Görlitz (VIII A) werden zehntausende Kriegsgefangene auf Märsche westwärts durch das verschneite Land gezwungen. Etwa 15.000 von ihnen pfercht die Wehrmacht in den folgenden beiden Monaten im Trockengebäude einer stillgelegten Ziegelei am Stadtrand von Duderstadt zusammen. Hier kommt es zu Kriegsverbrechen und Todesfällen.

In deutschen Archiven findet sich fast nichts über das Geschehen. Dabei bezeichnen US-amerikanische Zeitungsberichte die Verhältnisse im sogenannten Kriegsgefangenen-Durchgangslager Duderstadt schon unmittelbar nach der Befreiung im April 1945 als „perhaps the worst purely military horror of the war“, den vielleicht schlimmsten rein militärischen Schrecken des Krieges, und die englischsprachige Fachliteratur ordnet das Duderstädter Lager als schlechtestes aller Auffanglager ein.

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Das Trockengebäude der Ziegelei im November 2021 (Foto: Frauke Klinge)

Aussagen der Betroffenen nach ihrer Heimkehr und Erinnerungsberichte aus dem Internet geben Aufschluss darüber, was auf den Märschen und in Duderstadt geschehen ist.

Schon unterwegs leiden viele Gefangene, die ohnehin oftmals in schlechter Verfassung sind, an Erschöpfung, Durchfall und Erfrierungen. Während der chaotischen Märsche müssen sie in Feldscheunen oder gar völlig ungeschützt im Freien übernachten. Manche sterben vor Entkräftung, an Darmerkrankungen (Dysenterie) oder Tuberkulose. Medizinische Hilfe wird ihnen verweigert.

Aussage von Andrew J. Greco vom 28. Juli 1945, Atlantic City, vor dem Judge Advocate General’s Department (USA):

„Viele Amerikaner litten an Dysenterie, Erfrierungen und anderen Krankheiten. Da ich Arzt war, suchten viele meine Hilfe. Ich konnte aber gar nichts tun, weil die Deutschen so gut wie gar keine medizinische Versorgung anboten.

[Mr.] Pollard war bereits vor dem Marsch sehr krank, aber die Deutschen zwangen ihn dennoch zu marschieren. Als wir ungefähr eine Woche marschiert waren, suchte [Mr.] Pollard meine Hilfe. Er hatte beträchtlich an Gewicht verloren und sein Darm arbeitete unaufhörlich. Ich versuchte, Pollard auf einen Wagen legen zu lassen, der unsere Marscheinheit begleitete. Die deutschen Wachen verweigerten das jedes Mal und bedrohten uns schließlich, weil ich darauf bestand.

Die Einheit erreichte Duderstadt um den 14. März 1945. Pollard kam ins deutsche Krankenrevier (eine kleine provisorische Krankenstube ohne Betten), wo er zwei Tage später starb.“

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In diesem Ziegeleigebäude am Stadtrand von Duderstadt befand sich das Kriegsgefangenen-Durchgangslager (Aufnahme vom April 1945; Quelle: Imperial War Museum London, 937 Album 3, EA 62584)

Die Duderstädter Ziegelei Bernhard ist als Gefangenenlager komplett ungeeignet und bald auch vollkommen überfüllt. Es fehlt an allem: Betten, Essen, Heizung, Licht, sanitären Anlagen, medizinischer Versorgung. Es ist dreckig, kalt, feucht und voller Läuse. Eine einzige Handpumpe außerhalb des Gebäudes, die regelmäßig ab 14 Uhr trockenfällt, ist die einzige Wasserquelle. Zwei Glühbirnen sorgen in dem großen, verwinkelten Trockengebäude kaum für ein Schummern. Die einzige, improvisierte Latrine vor dem Gebäude darf wegen nächtlicher Ausgangssperre ab 20 Uhr nicht mehr aufgesucht werden. Und die deutschen Wachleute begehen brutale Kriegsverbrechen.

Aussage von Charles W. Irons vom 1. August 1945, Miami Beach, vor dem Judge Advocate General’s Department (USA):

„Es geschah ungefähr um 11 Uhr nachts. (…) Wir hatten unsere Suppe geholt, die wir einmal am Tag erhielten, gegen 10 Uhr abends, und ich war an die Stelle zurückgekehrt, an der ich meine Decke ausgebreitet hatte. Es war sehr dunkel in dem Gebäude. Ich hörte draußen einen Schuss, und ein amerikanischer Kriegsgefangener schrie drinnen um Hilfe und dass er getroffen war. Mein Kumpel und ich liefen in seine Richtung, aber bevor wir da waren, erkannten wir (…), dass schon zwei oder drei unserer Sanitätsleute – ebenfalls Kriegsgefangene – bei ihm waren. Jemand hatte von draußen durch das Fenster geschossen und ihn im Rücken getroffen. Die Sanitätsleute hatten keinerlei medizinische Hilfsmittel. Der Junge starb wenige Minuten darauf und sie trugen ihn hinaus. (…) Der Schütze muss ein deutscher Wachmann gewesen sein, denn das waren die einzigen, die sich hier draußen aufhalten durften. Sie schossen oft von draußen ins Gebäude, ohne erkennbaren Anlass.“

Auch beim Anstehen zum Essen werden die Gefangenen von den Wachen misshandelt. Sie bekommen Schläge mit Gewehrkolben auf den Kopf oder werden mit den Bajonetten malträtiert, die stets auf den Waffen der Wachleute aufgepflanzt sind. Die Wachmänner erschießen Gefangene, die Feuer machen, um Essen und Trinken zu erhitzen, oder die auf dem Vordach austreten, weil die Latrine nicht mehr erreicht werden kann.

Insgesamt sterben im Ziegeleilager mindestens 65 Kriegsgefangene.

Kein Wachmann oder sonstiger Verantwortlicher des Lagers wird nach dem Krieg für die Verbrechen belangt.

 
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Erinnerungen dazu lassen sich (auf Englisch) hier nachhören: 
Externe Audiodateien von: https://nzhistory.govt.nz/media/sound/pows-forced-marches

  • Anfang März 1945 zwang die Wehrmacht Georg Trundle zu einem 24-tägigen Marsch von Görlitz nach Blankenburg am Harz, wo er schließlich befreit wurde. Hier hören Sie aus erster Hand, wie er den Marsch beschrieb. Die Zahlen auf der Karte seines Marsches durch Deutschland geben die Orte an, die er im Interview erwähnt - der zwölfte Ort ist Duderstadt...

     
  • Arthur Cowan berichtet als Augenzeuge, wie ein Kriegsgefangener aus Südafrika in der Duderstädter Ziegelei erschossen wurde...