BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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Juni 2023 | Erinnern und Gedenken Teaserbild

Vorwärts sehen: Judit Nyitrais Lebensweg nach der Befreiung

Judit Nyitrai überlebt das jüdische Ghetto in Pécs, die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen sowie die Zwangsarbeit bei den Polte-Werken in Duderstadt. Nach der Evakuierung gelangt sie Mitte Juni 1945 über das KZ Theresienstadt zurück nach Ungarn. In Pécs trifft sie ihren Bruder, nicht aber ihre Eltern, Großeltern und ihre Schwester: Sie alle wurden in Auschwitz und Mauthausen von den Nationalsozialisten ermordet. Trotzdem will die 20-jährige Judit nach vorne schauen.

Im Außenlager des KZ Buchenwald in Duderstadt sammeln sich Anfang April 1945 die Gefangenen auf dem Appellplatz. Es sind Frauen, die hier zu leben seit November 1944 gezwungen sind. Sie leisten Zwangsarbeit für die Polte-Werke. Das nationalsozialistische Regime plant ihre profitable Vernichtung – die jüdischen Frauen sollen sich in dem Rüstungsbetrieb zu Tode schuften. Doch nun naht die Befreiung. Judit Nyitrai wird sich später erinnern:

„Wir haben die Flugzeuge gehört, man hat uns in die Reihe gestellt. Wir sind aus dem Lager herausgekommen und zu einem Bahnhof gegangen. Wir haben von den deutschen Soldaten gehört, dass die Amerikaner neben Duderstadt sind. Und weiße Betttücher waren schon am Dach.“

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Unterkunftsbaracke der Frauen des KZ-Außenkommandos Duderstadt
(Quelle: Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V./Götz Hütt, Aufnahme 2008)

Doch Judit und ihre Mitgefangenen werden von Duderstadt nach Theresienstadt deportiert. Drei Wochen dauert die Fahrt mit dem Zug. Auf Höhe Magdeburgs trifft eine Bombe einen der Waggons. Mehrere Mädchen sind sofort tot. Im KZ Theresienstadt muss Judit erneut in einer Baracke leben. Am 8. Mai 1945 sind die Deutschen weg, das Lager wird von Soldaten der Roten Armee befreit. Gemischte Gefühle bei Judit:

„Aber von Haus aus habe ich immer gehört: Wenn die Russen da sind, das ist für uns nicht so sehr gut. So habe ich mich sehr gut gefühlt und zugleich nicht so gut. Ich bin doch sehr dankbar, dass ich von den Russen befreit wurde. Aber dann blieben auch die Russen da, in Ungarn – vierzig Jahre.“

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Judit Nyitrai, geborene Spitzer, (stehend) 1931/32 im Kreise der Familie. Hinter ihr ihre Schwester Erzsébet, die ebenso 1944 in Auschwitz ermordet wurde wie die zu ihren Seiten sitzenden Eltern und die links sitzenden Großeltern.
Quelle: Judit Nyitrai, Budapest/ Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V.

Rückkehr nach Pécs

Judit muss weitere Tage im KZ Theresienstadt warten. Sie erinnert sich an zwei Männer – ebenfalls aus Pécs –, die im Lager nach Frauen aus der ungarischen Stadt suchen. Die Frauen aus Pécs werden nach Prag gebracht, bekommen einen Pass für die Weiterfahrt nach Ungarn. Wieder vergeht eine Woche, dann ist es endlich so weit: Ein Zug fährt Richtung Heimat. Aber nur bis nach Budapest.

„Ich habe einen Onkel in Budapest gehabt. Und dort habe ich gewohnt bei ihm vielleicht eine Woche. Weil da war noch kein Zugverkehr nach Pécs. Einmal in der Woche kam ein Lastwagen, Lastauto. Und die Pécser, die waren dann zusammen, und so konnten wir nach Hause gehen.“

In der alten Wohnung ihrer Familie trifft Judit ihren Bruder. Ihr ist klar, dass ihre Eltern nicht mehr nach Hause kommen werden. Und doch weiß Judit sofort:

„Es musste nun irgendwie wieder weitergehen mit dem Leben.“

Nachbarn haben die Möbel, Bilder und Teppiche der Familie aufbewahrt. Eine Ausnahme, denn in den meisten anderen Fällen ist das Hab und Gut der deportierten Jüdinnen und Juden verloren – meist, weil Nachbarn sich ihres Besitzes bemächtigten.

Neue Existenz

Judit kocht von früh bis spät, lässt aus Tischtüchern und Bettbezügen Kleider nähen, lässt neue Schuhe anfertigen. Sie wohnt zu zweit mit ihrem Bruder – der später nach Australien auswandern wird –, doch schon bald tritt ein Mann in ihr Leben, der seine Frau und sein kleines Kind verloren hat und in russischer Gefangenschaft war. Judit heiratet ihn nach einem Jahr, 1947 wird der gemeinsame Sohn István geboren, 1950 folgt das zweite Kind: Paul. Judits Mann ist 18 Jahre älter als sie. Ein Altersunterschied, der nicht ungewöhnlich ist: Viele Männer haben ihre erste Frau in den Vernichtungslagern verloren.

„Weil die Männer, die waren alle verheiratet. Die hatten Kinder und Frauen. Und die Kinder und die Frauen sind alle [bei der Selektion in Auschwitz-Birkenau] links gegangen und [wurden] so getötet. So sind die Männer nach Hause gekommen. Und wir, die jungen Mädchen, waren dann zu Hause. So war das, dass viele Männer älter waren und nicht unser Alter.“

Mit einem kleinen Laden bauen sich Judit und ihr Mann eine neue Existenz auf.

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Im Juli 1989 besucht Judit Nyitrai (2. v. l.) Duderstadt. Sie nimmt an einem Rundgang über das Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers und des frühere Polte-Werks teil.
Bildquelle: Hans-Georg Schwedhelm

Die Rückschau wagen

Ihren Kindern erzählt Judit erst nach etwa 25 Jahren, was ihr widerfahren ist. Das gesellschaftliche Klima in Ungarn ermutigt nicht dazu, über das Geschehene offen zu sprechen. Lange verdrängt sie das Erlebte. Später entscheidet sich Judit für einen Besuch in Auschwitz (1987) und in Duderstadt (Juli 1989). Sie will sehen, wo sie einst Häftling war. Das Museum in Auschwitz lässt Judit kalt – nicht aber die Krematorien in Birkenau, die ihr das Gefühl geben, auf einem Friedhof zu sein.

Judits Leben bleibt auch nach 1945 ereignisreich. 1950 wird das Geschäft verstaatlicht, die Familie zieht nach Budapest. Nach dem Tod ihres Mannes 1973 arbeitet Judit in der Gastronomie.

nyitrai_Standbild_Videointerview_2In einem Video-Interview 2008, das in der Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ zu sehen ist, wünscht sich Judit Nyitrai:

„Niemand soll vergessen diese Zeit. Und vielleicht, wenn dieses Video zehn Kinder anschauen, dann werden vielleicht acht sagen: ‚Das ist ein Blödsinn, das ist vielleicht nicht einmal wahr.‘ Aber vielleicht zwei werden sagen: ‚Oh, das war wirklich so.‘ Da müssen wir vorwärts sehen und so leben, dass das nie im Leben mehr geschehen soll oder geschieht.“

 

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Gedenktafel der Stadt Duderstadt zur Erinnerung an das KZ-Außenkommando
(Quelle:Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V./ Götz Hütt)