BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Januar 2024 | Fundstücke Teaserbild

„Wir hatten ständig Hunger“

Hunger tut weh. Hunger macht müde und kraftlos. Er schwächt das Immunsystem, die Organe werden unterversorgt, der Mensch wird anfälliger für Krankheiten. Mindestens 13,5 Millionen Menschen aus den besetzten europäischen Ländern mussten während des Zweiten Weltkriegs für Nazi-Deutschland Zwangsarbeit leisten – sehr viele von ihnen litten an chronischem Hunger. Nicht wenige von ihnen starben deshalb, viele andere hatten ihr Leben lang mit den gesundheitlichen Folgen zu kämpfen. Wie sehr sie hungern mussten, hing meist von ihrer Nationalität ab.

Roman Kornijenko ist 21 Jahre alt, als er aus seiner ukrainischen Heimat nach Deutschland verschleppt wird. Er wird gezwungen, für die Deutsche Reichsbahn zu arbeiten – zuerst ab Mai 1942 im Odergebiet, dann, als sich im Osten die Kriegsfront nähert, in Südniedersachsen. Von Januar 1945 an schuftet er in Göttingen und Dransfeld in den Ausbesserungswerkstätten der Reichsbahn, in Zehnstundenschichten, bei jedem Wetter. Die Nahrung, die er bekommt, reicht für die schwere körperliche Arbeit nicht aus. Roman Kornijenko erinnert sich:

„Zum Essen haben wir fast immer Suppe aus der Steckrübe bekommen, ab und zu gab es Nudeln, Kartoffeln, nur an Wochenenden Bouletten aus Leber. Wir hatten ständig Hunger.“

Roman Kornijenko und seine mitgefangenen Kollegen aus Osteuropa konnten sich 1945 nach der Arbeit und an den freien Sonntagen ohne Aufsicht relativ frei bewegen, jedoch „nach der erschöpfenden Arbeit und dem ständigen Hunger blieben keine Kräfte für Spaziergänge“.

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„Ende März 1945 wurde ich nach Dransfeld gebracht, natürlich ohne mich zu fragen und auch ohne mir vorher etwas erklärt zu haben. Da habe ich auch an den Bahngleisen gearbeitet. Ich habe an Flucht gedacht, aber es gab keine Möglichkeit. Ein Mensch, der körperlich und geistig erschöpft war, weiter als ins KZ wäre er nicht gekommen.“

 

Roman Kornijenko einen Monat vor seinem 23. Geburtstag im Odergebiet.
Bildquelle: Roman Kornijenko


Wie Kornijenko berichten viele ehemalige Zwangsarbeiter*innen von entsetzlichem Hunger. Die Quantität und Qualität ihrer Nahrung war dabei stark vom Rang der Menschen in der NS-Rasseideologie abhängig.

Der Niederländer Cees Louwerse erklärt, wie sich die Hierarchie der Nationalitäten auswirkte:

„Als die Arbeiter am Ende des Tages zurückgekommen sind, hat der Lagerführer den Kopf geschüttelt und gesagt: ‚Schau mal, man sieht mal, die haben ja schließlich keine Kultur.‘ Das waren die Franzosen. Die waren als Romanen eine Stufe niedriger als die Germanen.
Aber das schlimmste Beispiel war: In der Sammlerladestation arbeiteten zwei Deutsche, zwei Franzosen und zwei junge Russinnen mit den Batterien. Dafür braucht man Säure und das ist nicht gesund. Deswegen haben sie eine Portion Milch zusätzlich bekommen. Die zwei deutschen Männer bekamen etwa einen Liter pro Tag. Die zwei Franzosen bekamen einen halben Liter pro Tag und die jungen Russinnen bekamen nichts. So sieht man ganz genau, wie sich so eine Rassenideologie auswirkt, nicht?“

 
Kleidung gegen Zucker eingetauscht

Der 1928 geborene Michail S. aus der Sowjetunion muss zusammen mit 20 anderen minderjährigen Zwangsarbeitern aus Weißrussland, Russland, der Ukraine und Polen die Schwellen der Bahnstrecke zwischen Göttingen und Friedland reparieren, an sechs Tagen in der Woche, immer vom frühen Morgen bis zum Abend. Einquartiert ist die Gruppe in einem ehemaligen Pferdestall beim Bahnhof Obernjesa. Ihr drängendstes Problem aber ist der Hunger. Die Lebensmittelrationen sind so dürftig, dass die Jugendlichen Zusatzarbeit leisten oder sogar ihre Kleidung eintauschen, um etwas mehr zu essen zu bekommen. Michail S. erzählt:

„Morgens gab es fünf Kartoffeln in Schale und einen schwarzen Kaffee ohne Zucker. Zum Mittagessen gab es Suppe aus Kohlrabi. Abends 200 Gramm Brot und 5 Gramm Margarine. Wir hatten immer Hunger.

Es gab aber keinen, bei dem wir betteln konnten. Wir stahlen nicht. Wenn wir sonntags bei dem Meister das Holz sägten, gab er uns etwas zu essen. Beim Bahnhof Obernjesa war eine Zuckerfabrik. Wir tauschten dort unsere Arbeitskleidung gegen rohen Zucker. Aber nur einmal.“

 
„Ich habe schon gedacht, das ist das Ende“

Auch das Leben im sogenannten „Ostarbeiter“-Lager auf dem Schützenplatz in Göttingen ist von Hunger geprägt. Jelena Kranokutskaja aus der Ukraine erinnert sich:

„Morgens gaben sie uns 300 Gramm Brot, 20 Gramm Margarine und 1 Löffel Zucker. Zum Mittagessen gaben sie uns Suppe, die sehr schlecht schmeckte. Immer hatten wir Hunger. Essen kaufen konnten wir nicht, zum Tauschen hatten wir nichts. Wir haben Obst und Gemüse gestohlen, Früchte im Garten, Kohl aus der Küche, Rüben. Ich sprach etwas Deutsch, wir gingen mit meiner Freundin in die Dörfer und bettelten. Manchmal starben die Menschen vor Hunger, vor allem in den ersten Jahren.“

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Abbildung einer Tagesration für das Essen am Morgen und am Abend im Lager Schützenplatz: 300 Gramm Brot und 20 Gramm Margarine, dazu kam 1 Löffel Zucker.
Foto: Arndt Kohlmann

Olga Aleksejewna Sdor – ebenfalls Ukrainerin und im Lager Schützenplatz untergebracht und eingesetzt bei der Firma Winkel-Zeiss – ergänzt:

„Während wir in der Fabrik arbeiteten, bekamen wir zum Mittagessen die Suppe, die die Schweine nicht essen würden. Rüben und Kartoffeln, das alles war nicht geschält, nur durch die Maschine klein geteilt. Ich konnte das nicht essen. Unsere Kantine wurde aus einem Schweinestall gemacht, dort, neben den Schweinen, wurde ein Tisch aufgestellt für 40 Menschen. Die Menschen anderer Nationen aßen in der deutschen Kantine. Ich hatte Magenschmerzen vor Hunger.
Abends, wenn wir von der Arbeit zurückkamen, bekamen wir 180 Gramm Brot, 20 Gramm Margarine und einen nicht vollen Löffel Zucker, und das für Tag und Nacht. Das Brot wurde mit Sägemehl gebacken. Im Lager lebten wir schlecht. Wir haben gehungert, sehr gehungert. Als ich vor Hunger Magenschmerzen bekam, habe ich schon gedacht, das ist das Ende, ich sterbe. Aber trotzdem hoffte ich auf ein Wiedersehen mit meiner Mutter und meinen zwei kleinen Brüderchen, die in der Heimat blieben.“

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Passfoto auf der Arbeitskarte von Olga Aleksejewna Sdor geboren Tereschowa bei der Firma Winkel-Zeiss.
Sie kam als „Ostarbeiterin“ mit einem der drei großen Transporte aus der Ukraine im Herbst 1942 ins Lager Schützenplatz. Das Passfoto wurde kurz nach ihrer Ankunft in Göttingen aufgenommen.
Sie ist nur 17 Jahre alt.
Quelle: Stadtarchiv Göttingen

Die osteuropäischen Zwangsarbeiter*innen, die im Lager Schützenplatz leben müssen, werden auf dem Hin- und Rückweg zum Arbeitsplatz von Wachmännern und einem Hund begleitet. Es besteht ein striktes Ausgehverbot. Für „bewährte Arbeitskräfte“ aus Osteuropa wird dieses Verbot ab April 1942 jedoch etwas gelockert, sie dürfen jetzt stundenweise spazieren gehen, wenn sie eine schriftliche Erlaubnis mit Nennung des Zielortes und der Ankunftszeit bei sich tragen. Manche – wie Olga Aleksejewna Sdor – nutzen das, um in der Göttinger Innenstadt um Essen und Kleidung zu betteln. Einige Göttinger Bürger*innen spüren Mitleid mit den erschöpften und unterernährten Zwangsarbeiter*innen und stecken ihnen Brot, Kartoffeln oder Rüben zu. Andere aber fühlen sich allein durch die Anwesenheit der Bettelnden belästigt und denunzieren sie.

0833_grBeispiel für eine Denunziation bettelnder »Ostarbeiter«: Am 4. Juni 1944 beschwerte sich Georg B. bei der Göttinger NSDAP-Ortsgruppe Sültebeck über einen »Ostarbeiter«, der mit seinem Sohn um Brot und Kartoffeln bat. Quelle: Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. 124/2

 

Betteln und Stehlen fürs Überleben

Bei den Schickert-Werken in Rhumspringe leiden alle Zwangsarbeiter*innen an ständigem Hunger, auch die aus Westeuropa.

Der Ukrainer Władimir Petrowitsch S. erzählt:

„Ernährt wurden wir sehr schlecht: Einmal pro Tag gab man uns ein kleines Stück Brot, gekochte Rüben und ein Kaffeegetränk ohne Zucker.“

Wasil Proskura, ebenfalls aus der Ukraine, berichtet:

„Im Lager haben wir nur einmal am Tag zu essen bekommen: Suppe und ein Stück Brot. Ich habe gehungert. Ich ging ins Dorf, um zu betteln, manchmal klaute ich sogar Kartoffeln, Rüben, … Oft denke ich an die entsetzlichen Lebensbedingungen im Lager und beim Bau der Fabrik. Ein Junge im Lager war elf Jahre alt. Er war damals am Verhungern. Ich konnte seine Qualen nicht ertragen. Auf dem Lagergelände stand ein Schapp mit Kartoffeln für die Winterzeit. Ich stahl und gab es ihm zu essen.“

Frits Winkelmolen und sein Vater Peter kommen in einer Gruppe 70 niederländischer Männer aus der Provinz Limburg nach Bad Lauterberg und werden in der Chemiefabrik Schickert-Werke angelernt. Im Januar 1945 werden sie in die Schickert-Werke Rhumspringe versetzt.  Wegen des ständig nagenden Hungers gehen die Limburger Zwangsarbeiter in ihren wenigen freien Stunden in die Eichsfelder Dörfer und fragen bei Kleinbauern nach Arbeit im Tausch für etwas Essen. Einige besuchen bei ihren Streifzügen immer dieselben Adressen, weil sie wissen, dass sie dann am Abend mit gefülltem Magen zurück zum Lager gehen werden. Einige dieser Kontakte werden so intensiv, dass sie sogar nach dem Krieg fortbestehen.

0541_gr 0543_grAusweise von Frits Winkelmolen und seinem Vater Peter Winkelmolen.
Quelle: L. Winkelmolen-Schreurs, Neer


Zwischen November 1942 und der Befreiung am 10. April 1945 sterben in den Schickert-Werken in Rhumspringe nach offiziellen Angaben 23 Menschen aus Osteuropa und 51 aus Italien.

Hunger führt zu Konzentrationsschwäche, zu Kreislaufproblemen oder Kopfschmerzen. Das erhöht die Gefahr von Arbeitsunfällen, die lebenslanges Leiden oder sogar den Tod zur Folge haben. Viele Zwangsarbeiter*innen sterben dabei auch an Verletzungen, die eigentlich gar nicht tödlich wären: Die ständige Unterernährung hat sie zu sehr geschwächt. Zudem fehlt es in den Lagern an medizinischer Versorgung und Hygiene. Vor allem Zwangsarbeiter*innen aus Osteuropa und Kriegsgefangene sind einem höheren Risiko ausgesetzt, in die Todesfalle zu geraten. In den Akten finden sich als Todesursachen: „Herzmuskelschaden“, „Herzschwäche“, „Herzinsuffizienz“, „Magen-Darm-Entzündung“, „Zirkulationsstörung“ oder „Grippe“ – alles Anzeichen für eine allgemein sehr schlechte Ernährungssituation.