BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

März 2023 | Neues aus der Recherche Teaserbild

Bürokratisch organisiertes Verbrechen: Die Rolle der Arbeitsämter bei der Zwangsarbeit

Frauen und Männer aus Polen bildeten eine der größten Gruppen Zwangsarbeitender, hier in der Region wie insgesamt im Deutschen Reich. In unserer Ausstellung berichten unter anderem Wiktoria Delimat, Bronya Burek, Stefania Włodarczyk, Czesław Tulicki und Władysław Stankowski ausführlich, wie sie unfreiwillig nach Südniedersachsen gelangten, um Zwangsarbeit zu verrichten. Von Erpressungen der Dorfvorsteher, gewaltsamer Gefangennahme und der Entführung ganzer Züge ist da die Rede. Das mutet oft chaotisch an, aber es gab ein System, und darin spielten die Arbeitsämter eine zentrale Rolle. Denn auch das Kriegsverbrechen der NS-Zwangsarbeit wurde bürokratisch organisiert.

Sofort nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 rücken auch Angehörige der deutschen Arbeitsverwaltung dort ein. Das erste deutsche Arbeitsamt auf dem besetzten Territorium wird bereits am 3. September errichtet. Akten, die wir kürzlich
im Archiv des IPN (Instytut Pamięci Narodowej – Institut für nationale Erinnerung) in Warschau einsehen konnten, zeigen, wie diese Arbeitsämter die Zwangsarbeit der polnischen Zivilbevölkerung in Deutschland organisierten.

In dem von uns untersuchten Beispiel geht es um Menschen, die von deutschen Bäuer*innen oder Unternehmer*innen namentlich benannt und als Arbeitskraft „angefordert“ wurden. Aber wie kommt es überhaupt zu dieser persönlichen Anforderung? Häufig entsteht der Kontakt über die ersten bereits im Betrieb eingesetzten polnischen Zwangsarbeitenden. Wenn sie der Zwangsarbeit in Deutschland ohnehin nicht entgehen können, ziehen einige Pol*innen es vor,
dorthin zu gehen, wo sie ihr Schicksal mit Bekannten oder Verwandten teilen können.

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„Freiwillige“ Meldung zur Zwangsarbeit: möglichst in der Nähe des Aufenthaltsortes der Schwester.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 5 strona 0056

So – aber auch aufgrund deutscher Propaganda, die den Arbeitseinsatz im Reich als Weg ins Glück verklärt (siehe Blog Beitrag vom Januar 2023) – kann es zu scheinbar „freiwilligen“ Meldungen zum Arbeitseinsatz nach Deutschland kommen. In der Landwirtschaft besteht zudem bereits aus der Tradition der polnischen Saisonarbeit Kontakt. Gelegentlich geht es bei den namentlichen Anforderungen aber auch um polnische Zwangsarbeiter*innen, die aufgrund von Krankheit oder Schwangerschaft in den ersten Kriegsjahren vorübergehend nach Polen reisen durften und nun an ihren deutschen Zwangsarbeitsplatz zurückkehren sollen.

In jedem Fall gilt: Wenn deutsche Betriebe eine bestimmte Person aus Polen beschäftigen wollen, wenden sie sich an das zuständige Arbeitsamt in ihrer Region oder auch direkt an den betroffenen Menschen selbst. Immer jedoch wird dann die Arbeitsverwaltung im besetzten Polen eingeschaltet.

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„Angebot“ einer Bäuerin aus Salzburg an einen polnischen Landarbeiter.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 5 strona 0150

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Das Arbeitsamt im Reich wendet sich an das deutsche Arbeitsamt im besetzten Polen.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 5 strona 0321

Das Arbeitsamt im Reich legt seinem Schreiben an die Kolleg*innen im besetzten Gebiet z. B. das ausgefüllte Formular „Namentliche Anforderung in- und ausländischer Landarbeiter“ bei.

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Formular „Namentliche Anforderung in- und ausländischer Landarbeiter“.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 5 strona 0235

Als nächster Schritt wird von dem angeschriebenen Arbeitsamt in Polen die Deportation der „angeforderten“ Zwangsarbeiter*innen veranlasst. Das Amt sorgt dafür – auch unter Anwendung von Gewalt, was in den Akten freilich nie dokumentiert wird – dass die betroffenen Menschen ins große Sammellager der Arbeitsämter in Polen gebracht werden.

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Eine polnische Zwangsarbeiterin wird mit ihrem Kind ins „Sammellager“ des Arbeitsamtes in Krakau geschickt. In diesem Lager mussten z. B. auch Wiktoria Delimat, Bronya Burek und Czesław Tulicki Schikanen und Demütigungen der deutschen Verwaltungsmitarbeiter*innen über sich ergehen lassen.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 4 strona 0243

Von dort werden die zukünftigen Zwangsarbeitenden zu ihrem „Arbeitgeber“ im Reich „in Marsch gesetzt“.

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Mitteilung über die „Inmarschsetzung“ – sprich: Deportation – eines „angeforderten“ polnischen Landarbeiters.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 5 strona 0234

Eine entsprechende „Transportliste“ wird in Polen ausgefüllt und dem Arbeitsamt in Deutschland zugestellt.

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Arbeitsamt-Formblatt „Namentl[iche] Anforderung“. Der Stempel besagt: „Die auf der Transportliste vermerkten Transportteilnehmer sind entwest. Desinfektionsanstalt“
Quelle: IPN GK 98/486 t. 4 strona 0253

Abschließend wird, wie es sich für einen bürokratischen Vorgang gehört, die Kostenfrage geregelt. Dem „abgebenden“ Arbeitsamt, also dem Amt im besetzten Polen, steht für die „Lieferung“ der gewünschten Arbeitskraft eine Vermittlungspauschale zu, die auch die Kosten für die Zugfahrten einschließt.

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Die Kosten für die Fahrt der Zwangsarbeitenden aus Polen ins Reich mit der „Ostbahn“ und der Deutschen Reichsbahn holte sich die „Abteilung Arbeit“ im besetzten Polen vom zuständigen deutschen Arbeitsamt als „Vermittlungspauschale“ wieder.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 4 strona 0249

Die gezahlte Vermittlungspauschale fordert das Arbeitsamt in Deutschland anschließend vom „Arbeitgeber“ zurück. Haben die deportierten Pol*innen das Geld, müssen sie die Fahrkarten jedoch oft selbst bezahlen. Dass sie meistens in geschlossenen Güterwaggons ohne jede Einrichtung und bei unzureichender Luftzufuhr transportiert werden, steht indes nicht in den Akten und interessiert im Zusammenhang mit der Kostenerstattung auch nicht. Von nun an ist das deutsche Arbeitsamt in Abstimmung mit der Polizei als Überwachungsinstanz für das weitere Schicksal der Zwangsarbeitenden zuständig.

Selbstverständlich funktioniert dieses Verfahren nicht immer fehlerfrei. So gelingt manchen Menschen unterwegs die Flucht, andere kommen aus anderen Gründen nicht am Bestimmungsort an. Dann setzt eine Fahndung ein und es werden Strafmaßnahmen vorbereitet. Der Zwangsarbeit für die Deutschen darf man sich nicht entziehen!

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Die Arbeitsverwaltung duldet keinen Verstoß gegen ihre Maßnahmen.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 6 strona 0129

Manchmal aber stimmt auch nur die Rechnungsadresse nicht, dann liegt der Fehler offenbar bei der Arbeitsverwaltung im besetzten Polen.

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Die Kosten für Zwangsarbeitende, die weder bestellt wurden noch eintrafen, wollen selbstredend weder das Arbeitsamt noch der Bauer übernehmen.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 5 strona 0407

Wenn polnische Zwangsarbeitende ausfallen, weil sie etwa fliehen, ins Gefängnis kommen, dauerhaft erkranken oder sterben, kann es zur Stellung einer polnischen „Ersatzkraft“ kommen. Diese wird wie oben beschrieben „in Marsch gesetzt“, dabei aber mit einem „grünen Anhängezettel“ versehen.

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„Ersatzkräfte“ werden mit einem „grünen Anhängezettel“ deportiert.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 5 strona 0042

Hier verschmilzt die Sprache der Behörde geradezu mit dem Handelsdeutsch – Zwangsarbeitende werden wie eine Ware behandelt. Und so ist es selbstverständlich auch nicht unbedingt nötig, Namen konkreter Menschen zu kennen, um die begehrte Ware Arbeitskraft bestellen zu können. Es genügt auch ein handgeschriebener unvollständiger Satz auf einem kleinen Zettel, sofern der Inhalt von einer Behörde bestätigt wird. Entscheidend ist, dass überhaupt eine „Anforderung“ gestellt wird – ohne diese bekommt niemand eine Zwangsarbeiterin oder einen Zwangsarbeiter zugewiesen.

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Bäuerin Amalie B. fasst sich kurz: „Benötige noch für meinen landwirtschaftlichen Betrieb einen landw. Gehilfen.“ Die Bestätigung des Amtsvorstehers („Obige Angaben entsprechen der Wahrheit.“) verleiht ihrer Notiz hinreichende Dringlichkeit, sie bekommt „ihren“ polnischen Arbeiter.
Quelle: IPN GK 98/486 t. 5 strona 0398