BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

November 2022 | Erinnern und Gedenken Teaserbild

In memoriam

Der November ist ein Monat der Erinnerung. Der Jahrestag der antisemitischen Reichspogromnacht vom 9. November 1938 mahnt zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Zudem sind mehrere Feiertage dem Totengedenken gewidmet. Wir wollen an dieser Stelle an zwei kürzlich in den Niederlanden und in Großbritannien gestorbene Menschen erinnern, die wir im Zusammenhang mit unserer Ausstellung kennenlernen durften.

Vor drei Wochen, am 29. Oktober 2022, starb im niederländischen Kerkdriel in der Provinz Gelderland, gelegen am Fluss Maas und unweit der Stadt ‘s-Hertogenbosch, Thomas Langerak. Geboren wurde Thomas am 22. Februar 1950 in Utrecht.

Was hat ein fünf Jahre nach Kriegsende geborener Niederländer mit NS-Zwangsarbeit in Südniedersachsen zu tun? Thomas war Professor an der Fakultät für Künste und Philosophie der Universität Gent (Belgien). Er beschäftigte sich insbesondere mit russischer Sprache und Literatur und baute unter anderem eine Gruppe von Fachleuten auf, das „Gents Collectief van Poëzievertalers“, das sich um die Vermittlung russischer Lyrik in den niederländischen Sprachraum verdient machte. Er war aber auch der Lebenspartner von Nadja Louwerse – und somit Schwiegersohn von Eltern, die in Göttingen Zwangsarbeit hatten leisten müssen.

0535_gr Nadjas Mutter Marusha Shupina war aus ihrer ukrainischen Heimat nach Göttingen verschleppt worden, um zunächst als eines der „Schneeweiß-Mädchen“ in der Göttinger Großwäscherei Zwangsarbeit zu leisten. Später wurde sie in der Rüstungsindustrie eingesetzt und musste in der Möbeltischlerei Otto Reitemeier in Rosdorf Munitionskisten bauen, bevor sie schließlich im Göttinger Flakzeugamt unmittelbar für die Wehrmacht arbeiten musste. Dort lernte sie Cornelis „Cees“ Louwerse kennen, der als Student aus den besetzten Niederlanden zur Zwangsarbeit nach Göttingen deportiert worden war, weil er sich gemeinsam mit vielen Kommilitonen geweigert hatte, eine Loyalitätserklärung auf die NS-Besatzung der Niederlande abzugeben. Ihre Geschichten werden in unserer Ausstellung erzählt.

Cees und Marusha 1945. Quelle: Cees Louwerse, De Bilt

Cees Louwerse kam im Zusammenhang mit unserer Ausstellung mehrmals nach Göttingen. Manchmal brachte er Familienangehörige mit. So war auch seine Tochter Nadja mit ihrem Mann Thomas Langerak in Göttingen und gab dem Stadtradio ein Interview. Cees_Geburtshaus_Günther Siedbürger
Bei Gegenbesuchen in den Niederlanden vertieften sich die Kontakte. Thomas zeigte uns seinen Arbeitsplatz an der Universität Gent und führte uns zum Geburtshaus des damals bereits verstorbenen Cees auf Zuid-Beveland (Provinz Zeeland). Wir haben ihn als einen klugen, aufmerksamen und ruhigen Menschen kennengelernt, der großen Anteil am Schicksal seiner Schwiegereltern nahm, das wiederum starken Einfluss auf das Leben seiner Frau Nadja hatte. So prägen die Jahre der Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg nicht nur das Leben der direkten Nachkommen, sondern wirken sich auch auf die Situation der „indirekten Angehörigen“ der „zweiten Generation“ aus.

Cees' Geburtshaus. Foto: Günther Siedbürger

Louwerse 2010_07_004_Foto Lisa Grow_klein (2)Führung zur Station "Industrie": Zeitzeuge Cees Louwerse (links) mit seiner Töchtern Marjolein Louwerse (Mitte) und Nadja Louwerse (rechts), Juli 2010. Foto: Lisa Grow


„Dass es nicht wieder passiert“

Bronisława „Bronia“ Burek, geb. Haluch, starb am 30. September 2022 in West Malling in der Grafschaft Kent (England/U.K.). Bronia war am 12. Oktober 1925 in Szymbark in der heutigen Woiwodschaft Województwo małopolskie in Südpolen am Fluss Ropa, nicht weit entfernt von der Stadt Gorlice, zur Welt gekommen. Hier verlebte sie eine glückliche Kindheit mit ihren vier Schwestern, zwei Brüdern und den Eltern auf einem kleinen Bauernhof nah am Wald.

Im September 1942 kaperten Wehrmachtssoldaten den Zug, mit dem Bronia zum Besuch einer ihrer Schwestern reiste und nahm sie mit vielen anderen Passagier*innen gefangen. Etwas später, fünf Tage vor ihrem 17. Geburtstag, wurde Bronia als Zwangsarbeiterin nach Stockhausen im Landkreis Göttingen verschleppt. Bis zu ihrer Befreiung im April 1945 (siehe dazu den Blog-Beitrag vom April 2022) schuftete sie in der Zuckerfabrik Obernjesa sowie auf zwei Bauernhöfen und in einer Bäckerei in Ebergötzen.

Wir lernten Bronia und ihre jüngste Tochter Caroline im Sommer 2009 in ihrer Wohnung in 31_06_bronia-Caroline_West Malling_2009_8-125
West Malling/England kennen. Stundenlang erzählte sie, was ihr widerfahren war. Sie war den Tränen nah, als sie über ihre Erfahrung von Gefangenschaft, Deportation und Demütigungen sprach, lachte aber mit leuchtenden Augen, wenn sie von ihrer Eigensinnigkeit und sogar kleinen und größeren Taten des Widerstands erzählte.

Bronia Burek und Caroline Preece, West Malling 2009. Foto: Lisa Grow

Im Januar 2010 kam Bronia mit ihrer Tochter Caroline zum ersten Mal seit fünf Jahrzehnten wieder nach Göttingen, Stockhausen und Obernjesa. Es folgte ein zweiter Besuch im August 2010, bei dem Bronia Burek ihre Geschichte unter anderem mit Göttinger Schüler*innen teilte. Caroline meinte, dass die Erfahrungen ihrer Eltern (Bronias Ehemann Wacłav war ebenfalls Zwangsarbeiter in Ebergötzen gewesen) aus der Zeit der Zwangsarbeit und als Displaced Persons der Nachkriegszeit in der Familie bekannt waren. Nichtsdestotrotz habe sie durch die Interviews und vielen Gespräche immer wieder Neues über ihre Mutter und ihren Vater gelernt und sie dadurch besser verstehen können.

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Führung zur Station ′Auf dem Land′: Zeitzeugin Bronia Burek, 16. Januar 2010.
Göttinger Tageblatt, 5.2.2010, Seite 11.

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In der Ausstellung: Bronia Burek mit einer Schülerin der Projektgruppe der BBS II in Göttingen, 24. August 2010. Foto: Sibylle Meyer

Zu Bronia, ihrer Tochter Caroline und deren Mann Rob wuchs über die Jahre eine schöne Freundschaft. Im April 2015 besuchte Bronia uns in Göttingen zum letzten Mal. Sie feierte die Eröffnung der Ausstellung an ihrem heutigen Standort und führte die Besucher*innen mit ihrer eigenen Geschichte durch die Ausstellung.

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Führung zur Station ′Zwangsarbeitende aus Polen′: Zeitzeugin Bronia Burek berichtet,
17. April 2015. Foto: Philipp Küchler

Bronia kam gerne als Zeitzeugin nach Göttingen. Das war ihr wichtig. Ihre Erzählungen – so sagte sie einmal – sollten „in die Geschichte eingehen, und vielleicht werden die Menschen erkennen, was passiert ist und wie es geschieht, und vorsichtig sein, dass es nicht wieder passiert.“  Sie lachte kurz und fügte hinzu: „Und ich denke, es lohnt sich, diese Arbeit.“

Liebe Bronia, lieber Thomas, wir danken euch von ganzem Herzen und vermissen euch sehr!