BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

September 2022 | Fundstücke Teaserbild

Als „Verräter“ verschleppt: der italienische Zwangsarbeiter Giuseppe Chiampo in Hilkerode

Bis 1943 sind das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien Verbündete. Das Zerbrechen der sogenannten Achse Berlin-Rom verändert die Situation der italienischen Soldaten: 700.000 Männer werden nach Deutschland deportiert, um für das NS-Regime Zwangsarbeit zu leisten. Giuseppe Chiampo zählt zu den Verschleppten – seine Erfahrungen hält er in einem Tagebuch fest.

Am 25. Juli 1943 wird Benito Mussolini, der Anführer des faschistischen Italiens, gestürzt. Bürgerliche und monarchistische Eliten, die ihn zuvor lange unterstützt hatten, haben sich vom „Duce“ abgewandt, weil sie einen antifaschistischen Aufstand fürchten. Die faschistische Partei wird am 6. August 1943 aufgelöst, der italienische Faschismus geht unter. Nachdem die neue Regierung unter Marschall Badoglio im September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten geschlossen hat, beginnt die deutsche Wehrmacht mit der Besetzung Italiens. Die italienischen Truppen werden entwaffnet. Tausende von Soldaten, die eben noch mit den Deutschen verbündet waren und sich nun gegen die Gefangennahme wehren, werden erschossen. Die Nationalsozialisten deportieren 700.000 italienische Soldaten nach Deutschland. Die Aufkündigung der Allianz weckt rassistische Ressentiments, die Gefangenen werden von den Deutschen als „südländische Verräter“ verachtet.

Giuseppe Chiampo wird 1922 in Venedig geboren. Sein Vater ist Zugführer bei der Eisenbahn, seine Mutter arbeitet bei der Post. Im Jahr 1929 verliert Giuseppes Vater, ein Antifaschist, seine Arbeit und die Familie geht nach Padua. Am 15. Februar 1943 muss Giuseppe sein Studium der Ingenieurwissenschaften unterbrechen, da er zur alpinen Artillerie einberufen wird; er leistet seinen Militärdienst in Meran.

„Am 10. September 1943, infolge des Waffenstillstandes zwischen Italien und den anglo-amerikanischen Alliierten, wurde ich gefangen genommen und von der Wehrmacht … nach Deutschland deportiert.“

Am 11. September marschiert Giuseppe mit Tausenden von Gefangenen zu Fuß von Meran nach Bozen, wo sie auf einen Güterzug Richtung Brenner geladen werden. Mit 48 Kameraden in einem Viehwaggon zusammengepfercht wird Giuseppe in einem Güterzug nach Deutschland gebracht.

„Die Verschleppung von Giuseppe Chiampo. 1200 Kilometer fern der Heimat“
Eine Fotodokumentation von Thomas Damm (2009)
(basierend auf dem Tagebuch von Giuseppe Chiampo)

In der Nacht des 14. September erreichen sie das Kriegsgefangenenlager Fallingbostel. Giuseppe muss unter freiem Himmel auf der Erde schlafen. Er und die anderen italienischen Soldaten werden zu „Italienischen Militärinternierten“ (IMI) erklärt. Damit wird ihnen der Kriegsgefangenenstatus vorenthalten und sie sind dem Schutz der Genfer Konvention entzogen.

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Blick vom Wachturm auf den Haupteingang des Stalag XI B Fallingbostel (undatiert)
Fotoquelle:Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/Dokumentationsstelle Celle

„Jedem wurde die Erkennungsmarke aus Holz ausgehändigt, die um den Hals getragen werden musste, mit der Matrikelnummer I.M.I. (meine war 151896). Einzelfoto. Vier Appelle am Tag mit häufigen Einzeldurchsuchungen.“

Giuseppe berichtet von „sehr aufdringlicher faschistischer Propaganda, um Freiwillige für die Miliz der neuen Italienischen Republik von Salò Garda zu rekrutieren, von Mussolini nach seiner Gefangennahme und der folgenden Befreiung gegründet.“

„Ein italienischer Feldwebel sprach im Namen der Deutschen zu uns: In der absoluten Stille der nachrichtenhungrigen Menge sagte er, die Deutschen hätten Mussolini wieder in die Regierung eingesetzt; und sie fragten, wer von uns die neue Regierung anerkennen und zum Kämpfen wieder in die Heimat gehen wolle. (…) Ein sarkastisches Gemurmel voller Ungläubigkeit und Missbilligung erhob sich (…) Wir zogen es vor, gefangen zu bleiben und zu arbeiten.“

Nach gut zwei Wochen in Fallingbostel wird Giuseppe in das „Italiener“-Lager Hilkerode gebracht:

„Am 30. September 1943 wurde ich zusammen mit weiteren 150 Männern vom Mannschafts-stammlager XI B in Fallingbostel in Lastwagen zum Lager Arbeits-Kommando 6008 in Hilkerode transportiert und in neuen Baracken, die mit Stacheldraht eingezäunt waren, untergebracht.“

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Giuseppe Chiampo im Lager Hilkerode, Sommer 1944
Fotoquelle: Nachlass Giuseppe Chiampo, Padova

Das „Italiener“-Lager Hilkerode beherbergt durchschnittlich 450 italienische Zwangsarbeiter. Ako 6008 ist eines von über tausende Arbeitskommandos, die dem Mannschaftsstammlager (Stalag) XI B in Fallingbostel zugeordnet sind. Die Insassen müssen auf der Baustelle der Otto-Schickert-Werke im Nachbarort Rhumspringe arbeiten.

Giuseppe hat Glück und kann als Schreiber in der warmen Baracke bleiben. Schlechter ergeht es den anderen Gefangenen, die dazu gezwungen sind, ohne Handschuhe und geeignete Kleidung Zement zu schaufeln und zu transportieren. Sie werden wie Sklaven behandelt.

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Giuseppe Chiampo als Schreiber im Lager Hilkerode. Auch diese Arbeit zieht sich hin…
Quelle: Nachlass Giuseppe Chiampo, Padova - eigene Skizze

Giuseppe notiert in seinem Tagebuch:

„Der krampfhafte Hunger, die Kälte, der Schlamm, die Schläge, die Verletzungen, die Müdigkeit, der Zusammenbruch aller Ideale, die Zurechtweisungen der Aufseher, die auszehrende Arbeit, angetrieben von einem Folterer, der kein Erbarmen kennt: Das ist Schmerz!“

Mindestens 51 Italiener aus dem Ako 6008 sterben, vom Hunger entkräftet oder an Tuberkulose erkrankt.

Wie ging es mit Giuseppe weiter? Welche wichtige Rolle spielte er in den letzten Kriegstagen, was tat er unmittelbar nach dem Ende der Kampfhandlungen? Inwiefern setzte er sich für die anderen italienischen Zwangsarbeiter ein, konnte er ihnen helfen? Und wie gelangten seine Kameraden und er zurück nach Italien? Diese und weitere Fragen beantwortet die Dauerausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“. Wir freuen uns auf Euren Besuch!

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Chiara und Giuseppe Chiampo mit ihren Söhnen auf der selbstgezimmerten Holzbank während des alljährlichen Zelturlaubs in Italien, 1964
Fotoquelle: Nachlass Giuseppe Chiampo, Padova