BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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September 2023 | Fundstücke Teaserbild

Erst Freudensprünge, dann Deportation zur Zwangsarbeit: Wie zwei italienische Soldaten die Absetzung Mussolinis erlebten

Genau 45 Tage liegen im Sommer 1943 zwischen der Absetzung von Benito Mussolini und der Kapitulation Italiens. Für viele italienische Militärangehörige bedeutet das eine Phase großer Ungewissheit – und für etwa 700.000 von ihnen mündet sie in die Verschleppung zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich. Giuseppe Chiampo und Ivo Piaserico sind zwei der mindestens 500 Soldaten, die nach Südniedersachsen deportiert werden.

Das Verhältnis zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien ist bereits deutlich vor 1943 angespannt. Nach der Niederlage Italiens in Nordafrika und der Invasion der Alliierten auf Sizilien herrscht große Kriegsmüdigkeit im Land. Als Folge beschließt der „Große Faschistische Rat“ am 24. Juli 1943, dass der faschistische „Duce“ Benito Mussolini abgesetzt werden und die Regierungsgewalt wieder auf den König übergehen soll. Mussolini muss am nächsten Tag beim König vorstellig werden, der ihn absetzt, festnimmt und Marschall Pietro Badoglio als neuen Regierungschef einsetzt.

58 Jahre später erinnert sich Giuseppe Chiampo daran:

„Am 25. Juli 1943 gegen Mitternacht schreckte uns ein Weckalarm aus den Pritschen und im Unterrichtsraum ereilte uns die Nachricht von Mussolinis Amtsenthebung wie ein Blitz aus heiterem Himmel […]
Die faschistische Ära war zu Ende, nach 20 Jahren Diktatur!
Man wusste nicht, ob man froh oder beunruhigt sein sollte. Wie würden die verbündeten Deutschen auf die Nachricht reagieren? Würden wir weiter an ihrer Seite kämpfen? Aber in welchem Geiste? Das Vaterland erlebte in dieser Zeit sehr traurige Augenblicke. Die Unsicherheit zermürbte die Seelen. Alle hatten wir das Gefühl, als lauere eine große Bedrohung am Horizont.“

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Giuseppe Chiampo bei einer Zusammenkunft der Nationalen Vereinigung der Alpini (Gebirgssoldaten), Genova (Genua) 2001. Der Hut ist das traditionelle Erkennungszeichen der Alpini, der Einheit, der Giuseppe Chiampo angehörte. Für ihn war der Hut das Symbol für den Zusammenhalt der Einheit, den die Soldaten auch während der Besetzung Italiens durch die Wehrmacht zu wahren versucht haben. 
Fotoquelle: Nachlass Giuseppe Chiampo

Anfänglicher Euphorie und Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende setzt die neue Regierung jedoch schnell ein Ende. Freudensprünge werden mit Repression geahndet. Zudem verlegt Deutschland seine Truppen verstärkt in italienische Stellungen, um Italien besetzen zu können, falls es zu einem Separatfrieden mit den Alliierten kommen sollte. Am 3. September 1943 schließt Badoglios Regierung einen Waffenstillstand mit den Alliierten, der allerdings erst fünf Tage später bekanntgegeben wird. Ivo Piaserico berichtet:

„Es kam ein Sergeant, ein gewisser Silvestrini, raus und sagte: ‚Badoglio hat den Waffenstillstand unterzeichnet!‘ Und das war also der Moment der Mundpropaganda… ‚Es herrscht Waffenstillstand, der Krieg ist vorbei!‘ Und folglich gab es überall Freudensprünge.“

Doch kaum ist der Waffenstillstand bekannt geworden, beginnt die deutsche Wehrmacht, die italienischen Kasernen zu besetzen und die italienische Armee zu entwaffnen. Ivo Piaserico erinnert sich:

„Am 8. September kamen die Deutschen und übernahmen das Kommando, sie stellten sich auf die Stufen der Kommandozentrale und sagten: ‚Wir sind gekommen, um die Waffen zu übernehmen.‘“

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Ivo Piaserico als Soldat beim Militärdienst 1943
Fotoquelle: Ivo Piaserico

Die Reaktionen sind unterschiedlich, wie Ivo Piaserico erzählt:

„‚Wir übergeben die Waffen nicht!‘, sagten einige, und es sah so aus, als ob sie diskutierten, aber dann haben sie sich zurückgezogen, und als sie sich zurückzogen, wurden sie von der Wache erschossen.
Für uns wurde es gefährlich, als sie mit den Mörsern anfingen, von da ab konnte man niemanden retten, wer auch hinter dem Bordstein, der Mauer war, das konnte explodieren. Also hat der Kolonel um 9.30 Uhr oder 10.00 Uhr ein weißes Handtuch aus dem Fenster gehängt, so etwas in der Art jedenfalls.“

Giuseppe Chiampo notiert am 9. September 1943 in seinem Tagebuch:

„Sie [die Deutschen] sind schon in Meran und bald werden sie vor unserer Kasernentür stehen. Die Anweisung lautet, nicht zu schießen, sondern ihnen unsere Waffen zu übergeben. Diese Anordnung erscheint uns völlig absurd und unverständlich.“

Am 11. September 1943 ist die Besetzung des nördlichen Teils Italiens durch die Wehrmacht abgeschlossen. In den Gebieten, in denen vormals sowohl deutsche als auch italienische Truppen stationiert waren, dauert die Entwaffnung noch länger und erfolgt mit noch mehr Gewalt. Haben die italienischen Soldaten bis dahin zumeist einfach über sich ergehen lassen, was mit ihnen gemacht wird, nehmen viele ihr Schicksal nun selbst in die Hand. Als Giuseppe Chiampo bereits in Deutschland im Kriegsgefangenlager Stalag XI B Fallingbostel angekommen ist, beschreibt er in am 18. September 1943 in seinem Tagebuch einen faschistischen Anwerbeversuch:

„Heute kam ein italienischer Zivilist, ich glaube ein Beauftragter der italienischen Arbeiter in Deutschland. Er hat im Namen Mussolinis zu uns gesprochen und mitgeteilt, dass Mussolini wieder an der Macht ist. Ob das wahr ist? Man hat uns wieder einmal gesagt, dass die Aussicht und die Möglichkeit bestünden, die Freiheit und die ‚verlorene Ehre‘ wiederzuerlangen. Dieses würde mit unserer Einberufung in die italienische SS geschehen. Wir hätten dann wieder unsere Offiziere und würden unsere Abzeichen zurückbekommen. Keiner hat angenommen. Nein, es hat sich sogar jemand auf die Schultern der Kameraden gestellt und energisch und sarkastisch widersprochen.“

Mussolini ist am 12. September 1943 aus der Haft befreit worden und soll nun in einer Gegenregierung als Verbündeter der Deutschen auftreten. Doch nur wenige der nach Deutschland deportierten italienischen Soldaten folgen den Anwerbeversuchen, obwohl sie wissen, dass sie damit weiter in Gefangenschaft bleiben würden.

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Nach der Deportation sind die „italienischen Militärinternierten“ gezwungen, in Lagern zu leben. Paolo Boni aus Padova hat diesen Eintritt in das Lager zeichnerisch festgehalten.
Quelle: Centro di ricerca »Schiavi di Hitler«, Como

Am 20. September 1943 werden sie zu „Militärinternierten“ erklärt und damit dem Schutz der Genfer Konvention entzogen. In den folgenden fast zwei Jahren müssen die meisten von ihnen Zwangsarbeit im Reichsgebiet leisten. Wie es denjenigen ergangen ist, die wie Giuseppe Chiampo und Ivo Piaserico nach Südniedersachsen verschleppt wurden, erfahren Sie in der Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“.