BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Oktober 2022 | Fundstücke Teaserbild

Deportiert, selektiert und ausgebeutet: Jüdische Zwangsarbeiterinnen im Duderstädter Polte-Werk

Die ungarische Führung unterstützt NS-Deutschland in seinem Kampf gegen die Sowjetunion, erwägt nach der Schlacht um Stalingrad jedoch einen Wechsel auf die Seite der Alliierten. Die Folge: Am 19. März 1944 besetzt die deutsche Wehrmacht Ungarn. Gemeinsam mit den ungarischen Behörden berauben die deutschen Invasoren die Jüdinnen und Juden im Land ihrer Rechte und ihres Besitzes, sperren sie in Ghettos und Lager. 400.000 jüdische Ungarinnen und Ungarn werden nach Auschwitz-Birkenau deportiert, so auch Katalin Forgács und Mária Schwartz.

Die Deportationsfahrten sind menschenverachtend. Katalin blickt auf die Deportation zurück:

„So ungefähr 70 Personen waren im Waggon. Und zwei Eimer, und in einem war Wasser und das andere war das WC. So 70, 80 Personen ungefähr, alte, junge. Und so kleines Fenster ist gewesen. Sehr eng, sehr eng. Und der Weg dauert zweiundhalb Tage. Wir wussten nicht, wohin wir fahren.“

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Katalin Forgács im Alter von 3 und 16 Jahren
(Quelle: Katalin Forgács/Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V.)

Katalin und Mária gehören zu den 747 ungarischen Jüdinnen, die die Nationalsozialisten im Sommer 1944 aus ihren ungarischen Heimatorten nach Auschwitz verschleppen.

In Auschwitz werden Katalin und Mária selektiert. Um der Ermordung an Ort und Stelle zu entgehen, machen sich viele Frauen älter – oder auch jünger. Wer die Auswahl durch Lagerarzt Josef Mengele überlebt, wird nicht sofort in die Gaskammer geschickt, sondern soll arbeiten – und durch diese Arbeit profitabel vernichtet werden. Katalin erinnert sich an die Selektion:

„Und dann hat man uns aufgestellt. Und der Herr Mengele war dort. Das wusste ich noch nicht, wer ist der Herr Mengele, nur später. Hier war mein Vater, hier in der Mitte war ich und da war meine Mutter. Und hier steht Mengele. Und mein Vater hat mir noch so gemacht [winkt mit der rechten Hand]: ‚Wir werden uns treffen.‘“

Katalins Eltern werden in Auschwitz getötet.

Wer stattdessen als arbeitsfähig eingestuft wird, wie Katalin und Mária, soll in sogenannten Außenkommandos Sklavenarbeit leisten. Die beiden jungen Frauen werden von Auschwitz nach Duderstadt deportiert; das dortige Außenlager untersteht dem KZ Buchenwald. Hier wie andernorts planen die Nazis, die jüdischen Männer, Frauen und Kinder durch katastrophale Behandlung, mangelhafte medizinische Versorgung und Sklavenarbeit zu töten.

Bei ihrer Ankunft in Duderstadt ist Katalin erst 18 Jahre alt. Einige Frauen sind sogar noch jünger.

Arbeiten für den Feind

Katalin, Mária und die anderen Gefangenen müssen in der Duderstädter Munitionsfabrik Polte Zwangsarbeit leisten. Das Lager, in dem sie leben müssen, wird von einer Wachmannschaft und SS-Aufseherinnen beaufsichtigt. Die Aufseherinnen kommen aus der Region und sind im Frauen-KZ Ravensbrück ausgebildet worden. Sie behandeln die Zwangsarbeiterinnen brutal: Gefangene berichten später, dass sie selbst bei kleinsten Fehlern mit dem Tode bedroht wurden. Weitere Strafen sind das Knien im Schnee, Essensentzug, Schläge und das Scheren der Kopfhaare. Die Versorgung ist unzureichend, vier Frauen sterben im Lager. Ein dort geborenes Kind kann nicht überleben.

Mária erinnert sich an die Arbeitsbedingungen bei Polte:

„In Halle 17 arbeitete ich abwechselnd die eine Woche von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends, die andere Woche von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. In Schnee und Eis gingen wir den weiten Weg zur Fabrik, barfuß in Holzschuhen und ohne Unterwäsche in einer gestreiften Häftlingsuniform. Die Aufseherinnen begleiteten uns mit Schäferhunden. Es kam vor, dass uns im Schnee die Schuhe von den Füßen fielen. In der Fabrik musste ich alleine an einer großen Maschine Patronenhülsen formen. Die kleineren Patronen waren in Lauge eingelegt und ich musste sie ohne Handschuhe aus der Lauge in die Maschine legen. Das kleine bisschen ranzige Margarine (ca. 20 g) konnte ich nicht essen, da ich sie auf meine von der Lauge zerfressenen Hände schmieren musste, so weh tat es.“

Katalin klagt über Pigmentverfärbungen der Haut an den Armen und im Gesicht. Auch ihr setzen die giftigen Stoffe stark zu.

Geschosshuelsen
Unterkunftsbaracke_KZ-Aussenkommando_Duderstadt
Unterkunftsbaracke des KZ-Außenkommandos Duderstadt
(Foto: Götz Hütt, Geschichtswerkstatt Duderstadt e.V.)

Auch nach der Befreiung durchleben Mária und Katalin innerlich immer wieder das Unrecht, das die Deutschen ihnen und den vielen anderen jüdischen Frauen zufügten:

„Jetzt im Alter kommt das zurück. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke“, sagt Katalin.

Wie schildern andere aus Ungarn deportierte Jüdinnen die Zeit in NS-Deutschland? Was erwartete Katalin nach ihrer Rückkehr in Ungarn? In unserer Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ kommen Katalin und sieben weitere jüdische Ungarinnen zu Wort, indem sie in gefilmten Interviews von ihren Erlebnissen erzählen.