BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Juni 2022 | Fundstücke Teaserbild

„Grüßt schon mal alle, wenn ihr heimkommt“: Die Rückkehr des Jo Pouls

Sie wollen nach Hause, so schnell wie nur möglich: Nur einen Tag nach ihrer Befreiung machen sich elf niederländische Zwangsarbeiter auf den Weg zurück ins heimatliche Neer. Zu Fuß, ohne Landkarte, Proviant und Geld brechen sie auf. Um den Weg nach Westen zu finden, orientieren sie sich an den nach Osten verlaufenden Truppenbewegungen. Ihr Plan: auf Bauernhöfen nach einem Schlafplatz in der Scheune und nach etwas zu essen zu fragen, sonst nichts. Einer dieser elf ist Jo Pouls.

Etwa 3.000 Menschen werden im Oktober und November 1944 in der niederländischen Provinz Limburg westlich der Maas verhaftet und von dort über Venlo zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich deportiert.

Jo Pouls_2010_01_Fotos Alex Van Heugten 092Jo Pouls in Göttingen 2010
Quelle: Alex Van Heugten, Liessel

Jo Pouls wird am 8. Oktober 1944 zusammen mit anderen Jungen und Männern bei einer Kirchenrazzia festgenommen. 0265_gr

Er ist sechzehn Jahre alt, trägt Sonntagskleider und kann sich nicht einmal mehr von seinen Eltern verabschieden. Ohne Gepäck wird er über Venlo, Wuppertal und Haverlah-Wiese nach Rhumspringe/Hilkerode gebracht. Von dort kommt er nach Bad Lauterberg, wo er in den Otto-Schickert-Werken die Arbeit erlernt, die er etwa drei Monate später in Rhumspringe verrichten soll. Zusammen mit anderen niederländischen Jungen und Männern wird er im heruntergekommenen Lager Hilkerode einquartiert. Am 10. April 1945 werden die Zwangsarbeiter dort von amerikanischen Soldaten befreit.

Kirchplatz in Neer
Quelle: Lena Winkelmolen-Schreurs, Neer

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Viele Männer aus der Provinz Limburg trugen Sonntagsanzüge wie diesen, als sie bei Razzien direkt nach dem Kirchgang festgenommen und nach Deutschland deportiert wurden. In dieser Kleidung mussten sie ein halbes Jahr und länger arbeiten. Bei der Rückkehr war oft nicht mehr viel davon übrig.
Alte, abgetragene Armeestiefel, die als Symbol für die oftmals Hunderte von Kilometern stehen, die Zwangsarbeiter auf dem Heimweg zu Fuß in solchem Schuhwerk gelaufen sind.

Quelle: Alex Van Heugten, Liessell

„Die haben uns dann befreit und wir waren frei!“ erinnert sich Jo Pouls. „Schon abends wurde besprochen, was tun. Wer geht mit, wir gehen zu Fuß. Der Sef Sijbers war der Mann, der das ganze Feuer anfachte: ‚Wir machen uns auf den Weg nach Hause!‘ Ja, wir gingen nach Hause, aber wie weit war das? Machte nichts, wir würden sehen, wie weit wir kommen würden. Am nächsten Tag haben wir die älteren Leute gefragt, was die davon hielten. ‚Na ja‘, sagten die, ‚wenn ihr gehen wollt, dann sollt ihr eben gehen. Grüßt schon mal alle, wenn ihr heimkommt.‘ Und dann haben wir einfach Abschied genommen und haben uns auf den Weg gemacht.

Wir wollten bei Winterswijk die Grenze nach Holland überqueren, da dies der nächstgelegene Punkt für uns war. Dann haben wir eine Karte der Engländer gefunden, es lag ja alles Kriegsmaterial am Wegesrand und es wurden noch immer Truppen in Richtung Osten gefahren. Wir fanden also diese Karte von Deutschland und Holland und wussten nun, wo Gelderland lag … und da mussten wir hin, dort war uns die Grenze am nächsten. Und dann trafen wir es gut.

Wir sind jeden Tag zwischen 15 und 20 Kilometer gelaufen, manchmal 35 Kilometer, das hing davon ab, wie gut wir eben dran waren. Abends dachte man, den nächsten Tag eine Ruhepause einzulegen. Als es am nächsten Tag wieder hell wurde, kribbelte es aber schon; man spürte den Drang, nach Hause zu kommen. Geschlafen wurde bei einem Bauern oder in einer Fabrik oder einem Waggon oder so. Einfach irgendwo.“

Nach etwa vierzehn Tagen nähern sie sich der niederländischen Grenze. Etwa 30 bis 40 Kilometer vor Gelderland halten die Alliierten die Gruppe an und bringen sie in ein Camp für Displaced Persons. Dort warten Jo Pouls und seine Kameraden wochenlang, bis es am 20. Mai endlich weitergeht.

„Im Lager in Havelte […] wurden wir abgeholt von niederländischen Militärfahrzeugen. Die brachten uns nach Kleve. Und in Kleve wurden wir noch alle behandelt mit DDT usw., und von dort aus gingen wir alle nach Venlo.“

Die amerikanische Armee nimmt sie in ihren Lastwagen bis Baarlo mit. Von dort holt sie der Bruder eines der älteren Männer in ihrer Gruppe, ein Pater, mit dem Auto ab. Irgendwie schaffen es alle elf, in diesem Wagen mitzufahren:

„Wir sind dann ganz langsam nach Neer gefahren, ich mit Sef vorne auf der Stoßstange, Sef rechts, ich links. Wir hielten uns am Rand fest. Um 01.00 Uhr kamen wir am 20. Mai dann in Neer an. Am 20. Mai wurde ich 17 Jahre alt.“

Auf die Frage, ob er ein großes Fest gefeiert hat, erklärt Jo:

„Nein. Das nicht. Man hatte auch keine Lust dazu. Zu bereden und erzählen hatte man sich gegenseitig genug. Es war schließlich auch im Dorf vieles passiert. Das wurde alles erzählt. Und dann ist ein halber Tag schnell vorüber. Aber sechs Wochen danach ist meine Mutter gestorben. Die hatte im Krieg im Luftschutzkeller gesessen der Bomber wegen und war krank geworden.“

Wegen des Krieges hatte Jo nach der Schule keine weitere Ausbildung machen können, bis zu seiner Gefangennahme durch die Wehrmacht arbeitete er als Bauernknecht. Nun wieder zu Hause in Neer überlegt er, wie es weitergehen soll:

„Ich wollte etwas anderes. Aber man hat kein Studium gehabt. […] Bald danach musste ich zum Militär. Das war zwei Jahre nach Kriegsende. Ein Jahr später saß ich in Indonesien. Davon kam ich erst nach zwei Jahren [1951] wieder zurück.“

Seine Erlebnisse im indonesischen Unabhängigkeitskrieg, in dem er nun selbst als Gefreiter und später als Patrouillenkommandant für die Kolonialmacht kämpft, überschatten seine Erfahrung als Wehrmachtsgefangener und Zwangsarbeiter. Es lässt ihn nicht los.

Dass er so kurz nach dem Weltkrieg und als Opfer des Nationalsozialismus zum Militär eingezogen wird und in den Krieg gegen die Bevölkerung in Indonesien ziehen muss, empfindet Jo Pouls, den niederländischen Kinder- und Jugendbuchautor Gerard Sonnemans zitierend, als „Gestohlene Jugend“. „Das genau gilt auch für viele von hier. Von meiner Jugend habe ich, auch was das Studieren anbetrifft, wenig gehabt. Das hatte man später alles nachzuholen.“

Pouls_Winkelmolen_NeerFrits Winkelmolen (links) und Jo Pouls (rechts) auf dem Kirchplatz von Neer, von wo sie zu Fuß zum Bahnhof Venlo gehen mussten. 2007
Quelle:Geschichtswerkstatt Duderstadt

Weitere Interviewausschnitte mit Jo Pouls und Frits Winkelmolen über Zwangsarbeit in den Otto-Schickert-Werken Bad Lauterberg und Rhumspringe, die Verhältnisse im Lager sowie über ihr Leben davor und danach findet ihr in der Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“.