BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Januar 2022 | Fundstücke Teaserbild

Am 1. Januar 1945 fallen Bomben der Alliierten auf Göttingen

Der Luftangriff gilt in erster Linie den Göttinger Bahnanlagen. Einige Bomben fallen aber auch auf die benachbarten Zwangsarbeitslager Schützenplatz und Auf der Masch.

Marusja Shupina aus der Ukraine – damals 19 Jahre alt – erinnert sich fast vierzig Jahre später:

„Eines Tages wurde unser Lager bombardiert. Das war mitten im Winter. Ich war in der Baracke. Schrecklich! Ein Angriff nach dem anderen. Alles dröhnt! Ich fiel auf den Boden und schrie. Gott, beschütze mich! Und tatsächlich hat er mich beschützt! Einige Bomben, die gefallen waren, waren nicht explodiert – das waren Zeitbomben –, so dass ich von den anderen Mädchen durch den Schnee aufs Land [gemeint ist „auf sicheren Boden“] gezogen werden konnte. Ich war so fertig mit den Nerven, als ich die Köpfe der Menschen rollen sah, und Hände und Füße, die in alle Richtungen flogen, dass ich nicht mehr weiterlaufen konnte.
Währenddessen ging Cees überall herum und suchte mich, er fragte jeden, aber niemand wusste, wo ich war. Voller Verzweiflung lief ich zum Lager von Cees.“

Während sich der Großteil der Göttinger Bevölkerung in Schutzräumen in Sicherheit bringen kann, sind die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus dem Lager beim Schützenplatz schutzlos. Der Zugang zu Luftschutzbunkern ist ihnen verwehrt. Und so kommen bei diesem Luftangriff neben sieben Deutschen mindestens 39 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion ums Leben.

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Marusja Schupina und Cees Louwerse nach ihrer Befreiung 1945. Fotoquelle: Cees Louwerse, De Bilt

Marusjas Freund, Cees Louwerse, der als niederländischer Zwangsarbeiter im Lager Egelsberg lebt, schreibt über den 1. Januar 1945 in seinem Tagebuch:

„Von zwei bis vier [Uhr] habe ich Marusja gesucht und nicht gefunden. Bis ich Tanja [eine Freundin von Marusja] sehe, die mir erzählt: ‚Sie ist in Deinem Lager…‘

Nach Hause gekommen, fand ich ein weinendes Häuflein Elend; mit einer Veramon [ein starkes Schlaf- und Schmerzmittel] ist sie ins Bett gekrochen und sie hat bis acht Uhr geschlafen.
Frohes Neues Jahr!

 
Erst am 8. April 1945 marschieren US-Soldaten in Göttingen ein und befreien die Stadt und das Umland von der nationalsozialistischen Herrschaft.

 
Diese und weitere Fundstücke sind in unserer Dauerausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939–1945“ zu entdecken. Wir freuen uns auf euren Besuch!

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Luftaufnahme vom Schützenplatz (etwas rechts der Bildmitte) - Göttingen während eines Bombenangriffs der Alliierten, 1945. Fotoquelle: Städtisches Museum Göttingen