BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Januar 2023 | Fundstücke Teaserbild

Verklärte Ausbeutung: Propaganda und Wirklichkeit der NS-Zwangsarbeit

Über 13 Millionen Menschen – Zivilist*innen, Lagerhäftlinge, Kriegsgefangene – leisten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) Zwangsarbeit für das nationalsozialistische Regime. Unter falschen Versprechungen, durch ökonomischen Druck und mittels roher Gewalt werden sie ins „Großdeutsche Reich“ verschleppt. Das neue, nationalsozialistische Europa sollen sie aufbauen. Doch die Kluft zwischen der Propaganda und den Erfahrungen der Versklavten könnte größer kaum sein.

Vor dem Hintergrund einer Lokomotive und einem leuchtenden Horizont sind fünf Fotografien von Fabrikarbeit zu sehen, dazu die Aussage: „Arbeit in Deutschland, Arbeit für den Aufbau eines neuen Lebens!

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»Arbeit in Deutschland, Arbeit für den Aufbau eines neuen Lebens!«
Deutsches Propagandaplakat für die Anwerbung von Arbeitskräften in der Sowjetunion.
Quelle: Bundesarchiv, Plak 003-042-030, 1943

 

Ein kräftiger Mann mit Sense präsentiert einer staunenden Menschenmenge sonnen-überflutete Felder, als Botschaft steht darüber zu lesen: „Auf zur Landarbeit nach Deutschland! Melde Dich sofort bei Deinem Dorfvorsteher!“

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»Auf zur Landarbeit nach Deutschland! Melde Dich sofort bei Deinem Dorfvorsteher!«
Deutsches Propagandaplakat für die Anwerbung von Arbeitskräften in Polen.
Quelle: Muzeum Zamojskie, Zamosc/ Fundacja Polsko-Niemiecki Pojednanie (Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung)

 

Fünf Frauen schauen zuversichtlich aus einem anfahrenden Zug, der Text dazu behauptet: „Polnische Frauen und Mädchen fahren zur Arbeit ins Reich. Ihre freudigen Erwartungen werden nicht enttäuscht werden.

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»Wir fahren ins Reich. Polnische Frauen und Mädchen fahren zur Arbeit ins Reich. Ihre freudigen Erwartungen werden nicht enttäuscht werden
Deutsches Propagandaplakat für die Anwerbung von Arbeitskräften in Polen.
Quelle: Archiwum Zakladu Historii Ruchu Ludowego/ Fundacja Polsko-Niemiecki Pojednanie (Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung)

Mit Propagandaplakaten wie diesen zeichnet die nationalsozialistische Führung ein verharmlosendes, verklärendes Bild der Zwangsarbeit – sowohl in den besetzten
Gebieten als auch in Deutschland.

Verklärt durch Propaganda: NS-Verbrechen gegen die Menschheit

Fritz Sauckel, ab März 1942 sogenannter Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, führt die schon seit Jahren betriebene Verschleppung ausländischer Arbeitskräfte fort. Bereits seit 1939 deportieren die nationalsozialistischen Behörden im großen Umfang Menschen aus den besetzten Gebieten ins „Reich“, lassen sie unter desaströsen Arbeits- und Lebensbedingungen schuften. Viele finden im Zuge der Zwangsarbeit den Tod oder leiden auch nach der Befreiung 1945 an den Folgen des unfreiwilligen Arbeitseinsatzes, der für die Betroffenen Hunger, psychische sowie physische Gewalt und Gesundheitsschädigungen bedeutet.

„Ich habe Gott gebeten, dass eine Bombe mein Leid beendet“,

1182_grwird sich Józef Łytka-Woszczyk, der auch Jahrzehnte nach seinem Einsatz in Deutschland nur unter Schmerzen schlafen kann, später erinnern. Józef muss auf einem Bauernhof in Reiffen-hausen Zwangsarbeit leisten. Als ihn der Bauernsohn nach einem Wortwechsel mit der Peitsche schlägt, läuft er weg und wird verhaftet: Weil der ihm nachei-lende Bauer stürzt und blutet, gilt Józef als verantwortlich. Die Gestapo in Göttingen und Hildesheim misshandelt ihn; im KZ Buchenwald wird er zum medizinischen Versuchsobjekt degra-diert. Schließlich muss er in der „SS-Baubrigade IV“ in Wuppertal die Trümmer nach Bombenangriffen aufräumen.

Józef Łytka-Woszczyk in jungen Jahren.
Quelle: Józef Łytka-Woszczyk, Drawno

Die Ukrainerin Olga Aleksejewna Sdor wird rückblickend die katastrophalen Umstände der unzureichenden Nahrung schildern, denen sie – damals erst 17-jährig – als Zwangsarbeiterin bei der Firma Winkel-Zeiss in Göttingen ausgesetzt ist: Foto Olga Sdor

„Während wir in der Fabrik arbeiteten, bekamen wir zum Mittagessen die Suppe, die die Schweine nicht essen würden.“

Rechte und Ansprüche hat sie keine, ein Arbeitsplatzwechsel ist ihr nicht erlaubt. Olga muss im Lager auf dem Schützen-platz leben – NS-Sondergesetze, die für Zwangsarbeitende aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion und aus Polen gelten, rauben ihr die Freiheit. So ist es Olga beispielsweise nicht erlaubt, ihren Arbeitsplatz zu verlassen, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen oder öffentliche Einrichtungen gemeinsam mit Deutschen zu besuchen.

Olga Aleksejewna Sdor mit 17 Jahre, Herbst 1942
Quelle: Stadtarchiv Göttingen

In allen Wirtschaftsbereichen werden die versklavten Männer, Frauen, Jugendlichen und Kinder ausgebeutet, ihrer Menschenwürde beraubt.

 

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Xenia Gerassimowna S.
im Alter von 14 Jahren in Simferopol auf der Krim kurz
vor ihrer Deportation.

Weil sie ein Plakat für die Anwerbung von »Ostarbeitern« abgerissen hatte, wurde Xenia im September 1942 gemeinsam mit vielen anderen Jungen und Mädchen in einem Viehwaggon nach Deutschland deportiert, wo sie Zwangsarbeit für einen Bauern in Northeim und später in Lödingsen leisten musste.

Quelle: Stadtarchiv Göttingen        

 

Propaganda und Wirklichkeit

Die Erfahrungen von Józef Łytka-Woszczyk und Olga Aleksejewna Sdor stehen für das Leid, das die Nazis Millionen von Menschen zufügten. Die Verschleppung zur Zwangs-arbeit bedeutete einen gewaltigen Bruch in der Biografie der Betroffenen, viele bezahlten den unfreiwilligen Aufenthalt in Deutschland mit ihrem Leben. Die Nürnberger Prozesse 1945/46 versuchten, das begangene Unrecht begrifflich zu fassen und die Verantwort-lichen zu bestrafen. Die NS-Zwangsarbeit wurde dabei als das eingestuft, was sie – fernab der Propaganda – wirklich war: ein Kriegsverbrechen und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Am 1. Oktober 1946 wird Fritz Sauckel in Nürnberg schuldig gesprochen und als einer der 24 Hauptangeklagten zum Tod durch den Strang verurteilt. Die Bestrafung eines „großen“ Täters darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass fast alle „kleinen“ Täter*innen unbehelligt blieben. Die Zwangsarbeit war im Alltag der NS-Gesellschaft – auch in Südniedersachsen – nicht zu übersehen, Millionen Deutsche profitierten von ihr.

In unserer Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ erinnern wir an das Unrecht, das den Zwangsarbeiter*innen angetan wurde. Dort findet ihr auch weitere Biografien ehemaliger Zwangsarbeitender