BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

April 2022 | Fundstücke Teaserbild

„Das P flog weg!“ – Bronisława Haluch wird befreit!

Am 7. und 8. April 1945 wird in Göttingen aus Gerüchten Realität: Einem Luftangriff auf die Bahnanlagen folgt der Einzug US-amerikanischer Truppen. Die Stadt ist befreit.

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Bronisława Haluch als Kind (erste Reihe, Mitte) mit ihrer Großmutter, Eltern (Apolonia und Jozef Haluch) und Geschwistern Gienia links, Marisa rechts und Janek in der Mitte hinter Bronisława), Polen 1927.
Fotoquelle: Bronisława Burek, West Malling

„We were pleased then, when they said, ‚no more.‘ But it took long time, a very very long time. I was homesick all the time.“

„Wir waren froh, als sie uns gesagt haben, es ist vorbei. Aber es hat sehr lange gedauert, sehr, sehr lange. Ich hatte die ganze Zeit Heimweh.“

Bronisława Burek, geborene Haluch, aus Szymbark in Polen ist 17 Jahre alt, als sie im September 1942 gefangen genommen wird. Wehrmachtssoldaten kapern einen Zug, in dem die Jugendliche sitzt. Einen Monat später befindet sie sich im Landkreis Göttingen. Zunächst muss sie in der Zuckerfabrik Obernjesa schwere Arbeit leisten, dann schuftet sie auf zwei Bauernhöfen und schließlich in einer Bäckerei in Ebergötzen. Zudem leidet sie an Heimweh und an der Ungewissheit, ob sie ihre Familie wiedersehen wird, ob sie selbst jemals wieder frei sein wird. Im Alter von 19 Jahren ist es dann so weit. Ihre Freude über die Ankunft der US-Armee kennt keine Grenzen.

“We were so pleased that American [troops marched into Ebergötzen].
Then we knew the war is over!

We got some flowers from the garden to throw over to them on the tanks, and they threw chewing gum and chocolate back. Everybody was so pleased knowing that now we are free.
That was the main thing! Get freedom!

Ooh Oh! The “P” was flying!
You know there was this emotion and this happiness... the war is over! Not only for ourselves, but for Poland and for our families.” 

"Wir waren so froh, dass Amerikanische [Soldaten in Ebergötzen einmarschierten]. Da wussten wir, dass der Krieg vorbei ist!
Wir holten Blumen aus dem Garten, um sie zu ihnen auf die Panzer zu werfen, und sie warfen Kaugummi und Schokolade zurück. Alle waren so froh zu wissen, dass wir jetzt frei sind.
Das war die Hauptsache! Die Freiheit zu erlangen!
Und oh! Das „P“ flog weg!
Wissen Sie, da war dieses Gefühl und dieses Glück… der Krieg ist vorbei! Nicht nur für uns, sondern auch für Polen und für unsere Familien."

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Bronisława Burek in Stockhausen, Landkreis Göttingen, Januar 2010
Foto: Lisa Grow

65 Jahre später erinnert sich Bronisława an den Triumph, ihren Sklavinnennamen abzulegen:

„From that day on I became 'Broni' again, I left 'Frieda' there in Ebergötzen."

"Von dem Tag an war ich wieder ‚Broni‘, die ‚Frieda‘ habe ich dort in Ebergötzen zurückgelassen.“

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Wie alle anderen polnischen Zwangsarbeitenden war auch Bronisława dazu gezwungen, das P-Abzeichen an ihrer Kleidung zu tragen.
Mit dieser Differenzierung folgten die Nationalsozialisten nicht nur ihrem rassistischen Weltbild, sondern wollten auch verhindern, dass sich Zwangsarbeitende aus verschiedenen Ländern zusammentaten.

Wie reagieren die Deutschen im Dorf?

Die U.S.-Armee nähert sich Ebergötzen; Bronisława beobachtet die Reaktionen der Deutschen.

„There were some people outside, standing here and there in groups. Somebody said, ‚We are going to fight!‘
And another said, ‚Fight with what? We haven’t got anything.‘ Some men were wearing this SA uniform...and they quarreled.
Finally somebody said, ‚Well don’t be stupid! … You better take a white sheet and put it out … otherwise they may shoot.‘

After a while… somebody put a piece of white sheet on a stick.“

"Draußen standen hier und dort einige Leute in Gruppen herum. Jemand sagte: 'Wir werden kämpfen!' Und ein anderer sagte: 'Kämpfen womit? Wir haben doch nichts.' Einige Männer trugen diese SA-Uniform ... und sie stritten sich. Schließlich sagte einer: 'Seid doch nicht dumm! ... Nehmt lieber ein weißes Laken und hängt es raus ... sonst schießen sie vielleicht.' Nach einer Weile ... hat jemand ein Stück weißes Laken auf einen Stock gesteckt."

Der Bäcker, für den Bronisława arbeiten musste, ist bereits fortgelaufen. Die Mutter des Bäckers weint sich die Augen aus. Doch die meisten Deutschen sind still und verhalten sich unauffällig.

Die ersten Tage in Freiheit

Mit jedem Tag wird das Leben in Ebergötzen ein bisschen normaler. Die Deutschen müssen ihre Arbeit jetzt wieder selbst machen. Einige US-Soldaten, so erinnert sich Bronisława, sprechen gebrochen Polnisch oder Deutsch. Sie wollen wissen, wie die Zwangsarbeitenden behandelt worden sind. Und sie geben ihnen drei Tage Zeit, Rache an einzelnen Deutschen zu üben. So lange würden sie ein Auge zudrücken. Doch auf das Angebot der Soldaten kommt kaum jemand der Befreiten zurück.

Die Freude über die Befreiung trüben rasch Fragen, Ängste und Unsicherheit: Wie und wohin geht es nun weiter?

Leben in Unterkünften

Bronisława und ihr zukünftiger Mann Wacłav Burek möchten nicht in Deutschland bleiben – und tun es wider Willen doch noch viele Jahre: Zunächst gehen sie, wie von den Militärbehörden vorgesehen, nach Göttingen, wo sie sich als „Displaced Persons“ (DPs) registrieren und in Unterkünften mit anderen ehemaligen Zwangsarbeitenden in einem sogenannten DP-Lager zusammenleben.

Monate vergehen. Die Behörden bestimmen, wo Bronisława und Wacłav zu leben haben. Später arbeitet Wacłav als Wächter für die englische Armee. Mehrfach wechseln sie den Wohnort, und aus dem Paar wird eine kleine Familie. Fünfzehn Jahre lang leben sie mit ihren drei Kindern in sieben DP-Lagern in Niedersachsen – unter anderem in Bergen-Belsen, Herzberg, Osterode und Braunschweig –, während um sie herum im „Wirtschaftswunder“ Westdeutschlands der Wohlstand wächst. Erst 1960 darf die Burek-Familie nach England auswandern.

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Foto in der Orpington / Kentisch Times bei Ankunft der Familie Burek in Orpington, UK: (v.l.n.r.) Maria, Sofia, Henryk, Bronisława und Wacłav und Bürgermeister, September 1960.

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Bronisława Burek in der Ausstellung "Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939 – 1945 ", Göttingen, April 2015
Foto: Roland Zeyen

Wie erlebten andere Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter die letzten Tage des NS-Regimes? Warum waren sie unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen besonders gefährdet?
Diese und weitere Fundstücke sind in unserer Dauerausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ zu entdecken. Wir freuen uns auf euren Besuch!