März 2022 | Fundstücke
Lebensgefahr in Groß Lengden: Antonia Dumanskas Zwangsarbeit für einen Polizisten
Am 30. März 1942 klingelt das Telefon bei der Kriminalpolizei in Göttingen. Eine Frau Köhler aus Ischenrode meldet die Flucht der 19-jährigen Ukrainerin Antonia Dumanska, die als Hausangestellte Zwangsarbeit in Haus und Hof der Anruferin leisten muss. Frau Köhlers Verdacht erhärtet sich: Antonia hält sich bei einer Freundin im Göttinger „Stadtkaffee“ auf – im „Grätzelhaus“, Goetheallee 8. Von hier aus möchte sie in Richtung Heimat fliehen. Die Polizei findet die Ukrainerin, sie wird auf der Wache verhört.
Antonia Dumanska ist bereits seit 1941 in Deutschland, die nationalsozialistischen Besatzer hatten sie kurz vor ihrer Reifeprüfung verschleppt. Die junge Frau erreicht NS-Deutschland in einem Güterwaggon, arbeitet zunächst in einer Rüstungsfabrik. Anschließend bietet das Arbeitsamt sie den Bauern zur Zwangsarbeit an:
„Und da sind wir hier mit dem Zug gelandet. In Göttingen, nachts, da wurden wir verteilt. Da sind die Bauern schon gestanden. […] Da […] hat sich jeder eine geschnappt.“
Antonia ist die Tochter eines Brauereibesitzers, sie kommt aus wohlhabenden Verhältnissen und ist sehr gut ausgebildet. Nun muss Antonia in Ischenrode Haus- und Landarbeit verrichten. Die Landarbeit im Dreck, der sie bei Frau Köhler nachgehen muss, empfindet die Ukrainerin als Zumutung: Antonia muss Kühe melken und Schweine füttern. Frau Köhler, die grundsätzlich mit Antonias Arbeit zufrieden ist, sperrt das Telefon: Antonia soll nicht mit ihrer Freundin im „Stadtkaffee“ telefonieren. Die Isolation, die Einsamkeit und das Heimweh, unter denen Antonia ohnehin schon stark leidet, werden dadurch weiter verstärkt. An einem Sonntag entscheidet sie sich zur Flucht. Bereits das Verlassen des Arbeitsplatzes gilt als „Arbeitsvertragsbruch“.
Das »Stadtkaffee« um 1930, Goetheallee 8 | Fotoquelle: Städtisches Museum Göttingen
Sondergesetze für „Ostarbeiterinnen“ und „Ostarbeiter“
Für sogenannte Ostarbeiterinnen und Ostarbeiter – wie Antonia – gibt es Sondergesetze: So ist es ihnen etwa verboten, ihren Arbeitsort zu verlassen, öffentliche Verkehrsmittel oder Fahrräder zu benutzen. Intime Beziehungen mit Deutschen werden mit dem Tod bestraft. Kinder von Zwangsarbeitenden dürfen die Schule nicht besuchen. Zudem müssen Zwangsarbeitende aus Polen und der Sowjetunion ein diskriminierendes Kennzeichen mit dem Aufdruck „P“ bzw. „OST“ an ihrer Kleidung tragen.
Lebensgefahr in Groß Lengden
Beim Verhör warnt der Kriminalpolizist Antonia vor der drohenden Überstellung ans Arbeitsamt. Er malt Antonia die Schrecken aus, die sie bei einer Überstellung an das Arbeitsamt zu gewärtigen habe:
„Da wartet einer – was er sagt, machen Sie, sonst werden Sie totgeschlagen!“
Dann unterbreitet der Polizist der Ukrainerin ein Angebot:
„Mädchen, bei mir hast du’s gut, denn du kannst gut den Haushalt machen und alles […] und bisschen Felder harken und alles.“
Und so kommt Antonia in den Haushalt und die Nebenerwerbslandwirtschaft des Polizisten im Dorf Groß Lengden.
Dieses eigenmächtige Agieren des Polizisten ist ebenfalls eine verbotene Handlung, da die Einsatzorte der Zwangsarbeitenden vom Arbeitsamt bestimmt werden. Als die NS-Behörden entscheiden, dass Antonias Arbeitskraft intensiver ausgebeutet werden soll, kann der Polizist zwar ihren Verbleib bei ihm durchsetzen: Abends führt sie weiter seinen Haushalt. Tagsüber muss Antonia von nun an aber auf verschiedenen Bauernhöfen arbeiten.
Die Handlungen des Polizisten sind zwiespältig und voller Widersprüche. Einerseits ist er für die Verfolgung ausländischer Zwangsarbeitender verantwortlich. Andererseits ist er in Sorge um seinen vor Stalingrad vermissten Sohn, weshalb er Antonia zum Abhören russischer Sender nötigt, die den Kriegsverlauf schildern: Antonia muss die Meldungen übersetzen – und macht sich damit eines „Rundfunkverbrechens“ schuldig. Das Hören ausländischer Sender ist während des Krieges verboten. Währenddessen geht der Polizist mit seinem Schäferhund ums Haus, um denunziationswillige Nachbarinnen und Nachbarn von seinem Grundstück zu vertreiben. Da er Antonias Arbeitskraft und ihre Russischkenntnisse weiter ausnutzen will, deckt er auch ein Liebesverhältnis der Ukrainerin mit einem deutschen Dorfbewohner. Flöge dieses auf, wäre Antonia in Lebensgefahr.
Die polizeiliche Version der Geschichte von Antonia Dumanska.
Quelle: Stadtarchiv Göttingen Pol. Dir. 124/2, Bl. 454
Wie erging es anderen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die aus Polen oder der Sowjetunion stammten?
Findet weitere Fundstücke in unserer Dauerausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“.
Wir freuen uns auf euren Besuch!