BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Februar 2022 | Fundstücke Teaserbild

Gestohlene Jugendjahre: Karl Payuk in Südniedersachsen

Karl Payuk wird als Jugendlicher aus der Ukraine nach Deutschland verschleppt, um Zwangsarbeit zu leisten. Er überlebt nur knapp. Doch nach seiner Rückkehr in die Heimat dauert es Jahrzehnte, bis Menschen wie er als Opfer des zweiten Weltkriegs anerkannt werden. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine muss er heute, inzwischen hochbetagt, erneut um sein Leben fürchten.

Karl Payuk wird am 16. Juli 1926 als Sohn eines Bauern in der Ukraine geboren. 1941 marschiert die deutsche Wehrmacht in sein Land ein. Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer werden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. 1942 wird auch Karl – erst 16 Jahre alt – verschleppt.

Er wird seine Heimat erst 1950 wiedersehen.

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Karl Payuk im November 2008.
Quelle: Martin Guse, Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V.

Fast 60 Jahre später, im Sommer 2009, empfangen Karl und seine Frau Valentin Besuch. Zu Gast in Perwomaisk in der Ukraine ist Kai Löffelbein, Fotojournalist aus Deutschland. Jenem Deutschland, in dem Karl seine Jugendjahre verbringen musste – und das er Jahrzehnte später unter Mühen bereisen wird. Karl erzählt ihm seine Geschichte.


"Karl Payuk - Ein junges Leben als Ostarbeiter"  Eine Fotodokumentation von Kai Löffelbein (2009)

Flucht, Verhaftung, Unfreiheit

Nach seiner Verschleppung ins Deutsche Reich sollte Karl im Kreis Münden an einer Ferngasleitung für die Firma Mannesmann arbeiten, doch nach kurzer Zeit flieht er in einen nahen Wald. Die nationalsozialistischen Behörden greifen Karl auf, bringen ihn nach Kassel ins Gestapo-Gefängnis. Dort wird der Jugendliche misshandelt. Nach Gefängnis-aufenthalten in Hann. Münden und Göttingen kommt Karl in das „Arbeitserziehungslager“ (AEL) Liebenau. Wenige Wochen später wird er, wie es heißt, „in die Freiheit entlassen“. Eine zynische Formulierung, denn Karl erwartet die Unfreiheit der Konzentrationslager:

„Anfang 1943 kam ich ins KZ Neuengamme. Von dort ging es direkt weiter ins Außenkommando Salzgitter-Drütte. Wir waren die ersten Häftlinge dieses Lagers überhaupt und haben das Lager aufgebaut: Umzäunung, Wachtürme, Appellplatz, die Fundamente für das Industriewerk. Alles musste ganz schnell gehen.“

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Der Eingangsbereich des AEL Lahde/Weser mit Verwaltungs- und Mannschaftsbaracken 1944. Vor seiner Verlegung nach Lahde standen diese Baracken im AEL Liebenau.
Quelle:Wilhelm Borggrefe †, Petershagen

Karl muss als Dreher in den Hermann-Göring-Reichswerken Salzgitter Zwangsarbeit leisten:

„In einer einzigen Arbeitsschicht habe ich 360 Geschosse gefertigt. Jeden Moment wusste ich, dass diese Geschosse gegen unsere Armee gerichtet waren, meine Leute töten würden. Ich arbeitete für die Deutschen. Ich habe die deutsche Wehrmacht versorgt. Wir arbeiteten Tag und Nacht in 12-Stunden-Schichten. Ich sah kein Tageslicht, es gab nie frische Luft.“

Jahrzehnte später erinnert sich Karl an die Strapazen, das Sterben war nah:

„Ende 1944 war ich nur noch Haut und Knochen. Ich war so schwach und entkräftet, so ausgemergelt, ich wog nur noch 36 kg. Ich war fast tot. Wenn meine Haut juckte und ich mich kratzte, blutete das sofort und heilte nicht mehr zu. Meine Haut war zu dünn.“

Deportation nach Bergen-Belsen

Am 7. April 1945 räumt die SS das Außenlager Salzgitter-Drütte: Karl wird mit den anderen Gefangenen in einen Zug gepfercht, der sie ins KZ Bergen-Belsen bringen soll. Kurz vor dem Ziel gerät der Zug bei Celle in einen alliierten Luftangriff. Mehrere Hundert Häftlinge kommen ums Leben. Wer die unübersichtliche Situation zur Flucht nutzen will, wird von der einheimischen Bevölkerung verfolgt und gejagt. Mindestens 170 Männer, Frauen und Jugendliche werden von Celler Bürgerinnen und Bürgern ermordet.

Irgendwie kommt Karl in Bergen-Belsen an:

„Ich wollte herausfinden, in was für einem Lager wir genau sind. Jemand kam auf mich zu, das war schon kein Mensch mehr, nur noch Haut und Knochen. Er sagte: wir sind hier in Bergen-Belsen. Ich fragte: Wann gibt es was zu essen? (…) Am vierten Tag bekam ich einen Löffel gekochter Rüben in meine Mütze. Aus meiner Mütze habe ich dann gegessen. Es gab keine Schüssel, kein Besteck. Das war kein Essen.“

In Bergen-Belsen beziehen die neuen Häftlinge ihre Baracke, beim Betreten ereilt sie der Ekel: Überall liegen Leichen, den Männern schlägt der Gestank verwesender Körper entgegen. Karl und die anderen Häftlinge versuchen, ihre Schlafstätte herzurichten:

„Zuerst trugen wir die Leichen raus. Dann wollten wir den Boden putzen, aber es gab ja kein Wasser im Lager. Wir zerschlugen ein Fenster, kratzten mit den Scherben den Schmutz vom Boden. Ich habe Hände voller Müll und toter Ratten herausgetragen.“

Karl muss bis zu seiner Befreiung durch britische Truppen am 15. April 1945 in Bergen-Belsen bleiben.

Wunden, die wieder aufgehen

Nach der Befreiung wird Karl in die Rote Armee eingezogen. Erst 1950 kann er in die Ukraine zurückkehren, arbeitet in einer Kolchose als Traktorist, erhält Auszeichnungen – und läuft doch Gefahr, aufgrund der Zwangsarbeit in Deutschland als NS-Kollaborateur zu gelten. Erst Mitte der 1990er-Jahre erkennt die Ukraine NS-Zwangsarbeitende als vom Krieg Betroffene an: Karl kann nun den Bus kostenlos nutzen, seine Strom- und Gaskosten werden reduziert.

1999 betritt Karl wieder deutschen Boden:

„Da sah ich alles wie damals vor meinen Augen. Diese Berge von Leichen. Die Massengräber. Eine kalte Hand packte mein Herz und ließ es nicht mehr los, bis ich Deutschland verließ. Als ich anfing, mit Leuten über meine Zeit in Deutschland zu sprechen, musste ich oft weinen. Meine besten Jugendjahre musste ich in verschiedenen deutschen Lagern verbringen, wurde dort zusammengeschlagen, misshandelt. Natürlich heilt die Zeit auch meine Wunden. Aber die zugeheilten Wunden gehen immer wieder auf.“

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Karl Payuk im Kreis einer Jugendgruppe und von Förderschülern aus Liebenau, wo er einst inhaftiert war. Zwischen den jungen Leuten und Karl Payuk ist durch die Arbeit der Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V. eine sehr enge und herzliche Beziehung entstanden. – Das Bild zeigt die Gruppe im November 2008 im Anschluss an eine Kranzniederlegung zum Gedenken an die Opfer des Luftangriffs auf den Häftlingszug in Celle.
Quelle: Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e.V.

Am 24. Februar 2022 begann Russland unter Präsident Putin einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wie alle Menschen, die in den überfallenen Gebieten wohnen oder sich dort aufhalten, sind auch hochbetagte ehemalige Zwangsarbeitende wie Karl in Lebensgefahr, einige von ihnen sind bereits gestorben. Im Februar 2023 jährt sich der russische Überfall zum ersten Mal.

 Diese und weitere Fundstücke sind in unserer Dauerausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939–1945“ zu entdecken. Wir freuen uns auf euren Besuch!