August 2023 | Erinnern und Gedenken
„Entschädigung“? Leider nicht für alle
Mehr als 13 Millionen Menschen verrichten zwischen 1939 und 1945 Zwangsarbeit auf dem Gebiet des „Großdeutschen Reichs“. Bis in die 1990er-Jahre gelingt es so gut wie niemandem von ihnen, individuelle Entschädigung für Sklavenarbeit, Unfreiheit und Leid zu erhalten. Unter dem Druck von Sammelklagen in den USA gründet der deutsche Staat im Jahr 2000 die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ). Sie schüttet Geld zur „Entschädigung“ aus, erinnert an das NS-Unrecht. Ende gut, alles gut? Leider nicht.
„Für die gleiche Würde und die gleichen Rechte aller Menschen.“ Dieser auf der Website der Stiftung EVZ formulierte Anspruch ist kein kleiner. Deutsche Unternehmen und die Bundesrepublik Deutschland zahlen in den zehn Milliarden Euro schweren Stiftungsfonds ein. Betriebe, die Zwangsarbeitende einsetzten, sind zur Einzahlung aber nicht verpflichtet. Insgesamt knapp 4,4 Milliarden Euro werden an 1.665.000 Menschen ausgezahlt. Der Umkehrschluss: Millionen Menschen gehen leer aus, Millionen Menschen wird ihr Lohn weiter vorenthalten. Und wer einen Antrag stellt, verzichtet damit auf alle weiteren Ansprüche, die aus dem NS-Unrecht entstanden sein könnten. Auch die vielen Zwangsarbeitenden, die vor dem Jahr 2000 gestorben sind, haben von der späten „Entschädigung“ natürlich nichts mehr.
Menschen, die in Haushalten schuften mussten, bekommen nichts, ebenso wenig wie die 130.000 italienischen Militärinternierten. Ehemals in der Landwirtschaft Eingesetzte erhalten dank einer Öffnungsklausel zwar in manchen Ländern Zuwendungen – diese fallen im Vergleich jedoch eher gering aus.
Tausende ehemalige Zwangsarbeitende können die Sklavenarbeit, die sie für das NS-Regime leisten mussten, nicht belegen. Es fehlen die notwendigen Dokumente: Weil sich in der deutschen Öffentlichkeit jahrzehntelang kaum jemand für die NS-Zwangsarbeit interessierte, war die Aufbewahrung der Unterlagen unwichtig erschienen. Zudem stellen deutsche Behörden entsprechende Nachweise oft nicht aus, sehr zum Schaden der Rentenansprüche ehemaliger Zwangsarbeitender.
Seit 2006 zahlt die Stiftung offiziell keine „Entschädigungen“ mehr aus. Eine bessere Zukunft durch finanzielle Zuwendungen? Leider nicht für alle.
Noch nicht einmal ein Taschengeld
Verglichen mit der geleisteten Arbeit entspricht die „Entschädigung“ in vielen Fällen nur einem Taschengeld. Mirosław Kukłinski wächst als Zwangsarbeitenden-Kind in Südniedersachsen auf, wo seine Mutter in der Ziegelei Jacobi in Bilshausen und in der Reißwollfabrik Hollenbach in Duderstadt arbeiten muss. Sein Vater leistet als KZ-Häftling ebenfalls Zwangsarbeit. Doch was der Familie als „Entschädigung“ zugestanden wird, ist lächerlich wenig:
„Ich 200 Euro, Mutter 200 Euro, Vater 2000 Euro. Wo ist da der Unterschied? Der Unterschied ist, dass der Vater eine Häftlingsnummer hatte und als Häftling eingestuft war. So bekam er mehr. Uns haben sie nicht als Häftlinge eingestuft, sondern nur als Zwangsarbeiter. Deshalb bekamen wir weniger. Ich erinnere mich noch, als ich die Einfahrt zum Haus machte, reichte das Geld nicht für den Kies.“
Mirosław Kuklinski und Ursula Hütt in Duderstadt 2010. Foto. P. Paulerberg
Der Niederländer Jo Pouls musste Zwangsarbeit auf der Baustelle der Otto-Schickert-Werke in Rhumspringe sowie in Bad Lauterberg leisten. 2007 nach der „Entschädigung“ befragt, fällt seine Antwort enttäuscht aus:
„Die haben uns damals froh gemacht; es stand ein Artikel in der Zeitung und dort wurde geschrieben, dass auf uns viele Millionen warteten. Dieses Geld kam von BMW und Volkswagen, die diese Millionen in einen großen Topf getan hatten. Die sollten dann unter den Zwangsarbeitern verteilt werden. (…) Man musste 200 Fragen beantworten. (…) Dann hat es eine ganze Weile gedauert, bis wir Nachricht bekommen haben: Es würde nichts ausbezahlt werden. Schön ist das nicht. Ich habe auch noch einigen Witwen geholfen mit den Fragebögen, aber auch die bekamen nichts.“
Jo Pouls in Göttingen 2010. Foto: Alex Van Heugten, Liessel
Bleibende Beschädigungen
In der Nachkriegszeit werden Zwangsarbeitende für Plünderungen verantwortlich gemacht, ihnen wird die Zerstörung deutschen Eigentums vorgeworfen. Eine Aufarbeitung des Verbrechens der NS-Zwangsarbeit findet jahrzehntelang kaum statt. Doch auch nach Gründung der Stiftung EVZ bleiben viele Wunden offen. Unsere Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ stellt mehrere ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vor, die selbst im 21. Jahrhundert – mindestens 55 Jahre nach der Zeit in NS-Deutschland – unter gesundheitlichen Spätfolgen leiden.
Die Zeichnung „Die Rückkehr“ des ehemaligen italienischen Militärinternierten (IMI) Paolo Boni illustriert die gesundheitlichen Leiden vieler ehemaliger Zwangsarbeitender. Paolo hatte als IMI keine Chance, Entschädigungsleistungen aus dem Fonds der Stiftung EVZ zu erhalten.
Quelle: Istituto di Storia Contemporanea »Perretta«, Como
Aus den beschädigten Biografien ergeben sich Fragen:
Ist „Entschädigung“ angesichts dessen, was passiert ist, überhaupt ein adäquater Ausdruck?
Auf welche Weise wollen wir uns heute – 77 Jahre nach Kriegsende – an das begangene Unrecht erinnern?
Am 2. August 2023 feiert die Stiftung EVZ ihr 23-jähriges Bestehen. Sie leistet wertvolle Erinnerungsarbeit, fördert Projekte zum Thema Zwangsarbeit, unterstützt das so notwendige Erinnern. Doch mit dem Einrichten einer Organisation „von oben“ war und ist es nicht getan.
Viel zu viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sind leer ausgegangen. Der Geburtstag der Stiftung EVZ ist für sie kein Grund zum Feiern.