September 2024 | Fundstücke
Zum Wohl! … des Feinds
Die deutschen Kneipen und Hotels können ihre Angebote in den Kriegsjahren häufig nur mithilfe des Einsatzes von Zwangsarbeiter*innen aufrechterhalten. Diese kochen, putzen oder knechten in der gelegentlich angeschlossenen Landwirtschaft. Doch sie arbeiten keineswegs nur im Verborgenen. Bei der Bedienung der Gäste am Buffet und an den Tischen ist Zwangsarbeit so öffentlich wie an wenigen anderen Orten.
Der Gandersheimer Viehhändler und Gastwirt Georg Vespermann beschäftigte in seiner Gastwirtschaft Zum Adler polnische Zwangsarbeiterinnen.
Quelle: Quelle: Stadtmuseum Bad Gandersheim
Am 12. September 1942 wird Natalia Katalkina 20 Jahre alt. Zum Feiern ist der jungen Frau aus der Sowjetunion aber nicht zumute, denn sie befindet sich „auf Transport“ nach Deutschland. Zwei Tage später erreicht sie den kleinen Weserort Hemeln im Landkreis Münden. Hier wird sie als „Hausgehilfin“ bei Elisabeth Niemann in der Weserstraße eingesetzt. Erst zwei Monate nach Beginn ihrer Zwangsarbeit erfolgt die Anmeldung bei der Krankenkasse, vermutlich will die „Arbeitgeberin“ sich Kosten sparen. Laut Versichertenkarte erhält die zwanzigjährige „Ostarbeiterin“ den extrem niedrigen Lohn von 13 Reichspfennigen pro Arbeitstag, wobei es wie immer fraglich ist, ob diese Löhne überhaupt ausgezahlt werden.
Nach einem guten halben Jahr findet Natalia Katalkina sich in der nahegelegenen Stadt Hann. Münden wieder. Ab dem 3. April 1943 arbeitet sie bei etwas besserer Einstufung für die Mündener Hotelbesitzerin Lehnert im Hotel Eberburg, wo sie nun auch wohnt. Auch hier wird ihre Beschäftigung als die einer „Hausgehilfin“ geführt.
Natalia Katalkina mit anderen Personen, darunter vermutlich Katharina Bogumolenko, im August 1943 vor dem Hotel Eberburg, Hann. Münden.
Quelle: Archiv der ukrainischen NGO „After Silence“
Die Eberburg im Tillyschanzenweg 8 diente jahrzehntelang als Sommersitz des besonders in den Gründerjahren des deutschen Kaiserreichs sehr bekannten Bildhauers Gustav Eberlein, der 1847 zur Welt kam und in Hann. Münden aufwuchs. Nach seinem Tod 1926 führt seine verheiratete Adoptivtochter Emma Lehnert das Haus als Künstlerklause weiter. Aufgrund der Lage am Waldrand mit einem sehr schönen Blick auf die „Drei-Flüsse-Stadt“ Hann. Münden entwickelt sich das Etablissement zu einem beliebten Ausflugslokal mit Hotelbetrieb. Damit dieses „Fremdenheim“ auch im Krieg weiterläuft, beschäftigen die Lehnerts zwei „Fremdarbeiterinnen“, eben die 20-jährige Natalia Katalkina sowie zumindest vorübergehend die jüngere, 18 Jahre alte Katharina Bogumolenko. Diese wird aus der Sowjetunion zunächst nach Ihringshausen bei Kassel deportiert, von wo sie in den Mündener Tillyschanzenweg kommt.
Der Ostflügel der Künstlerklause Eberburg in Hann. Münden vor dem Zweiten Weltkrieg. Quelle: Stadtarchiv Hann. Münden (BA 267 Eberburg [51])
Nicht anders als die Lehnerts in der Eberburg macht es ihr Nachbar Herr Bierschenk, der Wirt der Gaststätte Tillyschanze, nur dass das von ihm beschäftigte „ukrainische Hausmädchen“ – so der Eintrag auf der Krankenversicherungskarte – noch jünger ist als die beiden „Ostarbeiterinnen“ der Eberburg: Nina Terenwaka ist erst 16 Jahre alt, als sie im August 1942 auf der Tillyschanze ankommt, wo sie die nächsten zweieinhalb Jahre arbeiten und wohnen wird.
Auch in anderen Gaststätten und Hotels der romantisch gelegenen „Drei-Flüsse-Stadt“ versorgen ausländische Arbeitskräfte die Gäste. In Rudolf Müllers Hotel Andreesberg sind das zunächst ein 28-jähriger Mann und ein 17-jähriges Zimmermädchen aus Polen, die später durch ein 26 Jahre altes niederländisches „Hausmädchen“ ersetzt werden. Im Hotel Zur Krone arbeiten eine Französin oder Belgierin und später eine Jugoslawin, die im Alter von 16 Jahren aus Belgrad zunächst ins Hotel Jung kam. Das Hotel Jung beschäftigt zudem eine weitere 16-jährige Jugoslawin, eine 18 Jahre alte Slowenin und eine 21-jährige Ukrainerin als „Hausgehilfinnen“. Der Gastwirt Portugall hat unter dem Personal seines Gasthauses Zum Reinhardswald zwei Polinnen. Auch in der Mündener Bahnhofsgaststätte arbeitet eine Frau aus Polen. Dasselbe gilt für die Gaststätte Letzter Heller von Willi Weitemeyer, während im Neumündener Hof von H. Heise und im Gasthaus Frohme jeweils eine „Ostarbeiterin“ tätig ist. Auch G. Krausbauer im Haus Weserland und G. Blume bzw. K. Fulle in der Adolf-Hitler-Straße (Lange Straße) 21 beschäftigen in ihren Gastwirtschaften ausländisches Personal.
In anderen Städten ähnlicher Größe in der Region ist das Bild das gleiche. In Einbeck ist der Einsatz von Zwangsarbeiter*innen in den Gastwirtschaften Hesse und Zum Brodhaus, den Hotels Goldener Löwe und Zur Traube, der Gaststätte Walter Wicke und der Ausflugs-Waldgaststätte Zum Hasenjäger belegt. In Bad Gandersheim erhalten Frauen aus Polen und der Sowjetunion sowie Männer aus Frankreich, der Ukraine und der Tschechoslowakei den Betrieb folgender Etablissements aufrecht: Gastwirtschaften Zum Adler (Georg Vespermann), Am Markt (Robert Porschberger) und Waldschlößchen (Max Kolbe), Gaststätte Osterbergsee (Max Gündel), Bahnhofsgaststätte (Frau Hesse), Hotels Prinz Wilhelm (Hermann Sievers), Weißes Roß (Hermann Bollmann) und Römischer Kaiser, Gaststätte und Konditorei Heinrich Lüpke und das Stadtkaffee. In Northeim schließlich sind es die Gastwirtschaften Gesundbrunnen (Heinrich Rautmann), Fritz Köhler (Bahnhofstraße 16) und die Bahnhofswirtschaft von Bernhard Schüttrumpf sowie die Hotels Zur Sonne (Otto Müller) und Deutsches Haus, die osteuropäische Zwangsarbeiterinnen und gelegentlich Küchengehilfinnen oder Köchinnen aus Westeuropa einsetzen.
Das Hotel Römischer Kaiser in Bad Gandersheim beschäftigte ein ukrainisches „Hausmädchen“. Quelle: Stadtmuseum Bad Gandersheim
Auch in den Dörfern der Region nutzen die noch zahlreich vorhandenen Gaststätten und Dorfkneipen die Arbeitskraft ausländischer Menschen, die gegen ihren Willen nach Deutschland verbracht werden, um der einheimischen Bevölkerung ein paar angenehme Stunden zu bereiten, sie mit Speis und Trank zu versorgen – und daran zu verdienen. Nur als Beispiele seien hier genannt die Kneipen der Gastwirte Busch in Adelebsen, Schäfer in Eberhausen, Gerwig in Nienhagen, Protte in Niederscheden, Deppe in Breitenberg, Kwoczek in Gerblingerode, Meyer in Eberhausen, Fiege in Rosdorf, Stietenroth in Wöllmarshausen, Brennecke in Wibbecke und Hartmann in Waake.
Viele Gastwirte auf den Dörfern (und manchmal auch in den Städten) unterhalten zugleich eine Landwirtschaft, so dass die Zwangsarbeiter*innen hier in der Regel nicht nur im Gaststättenbetrieb, sondern auch in der Landwirtschaft und im Haus arbeiten müssen. Hausarbeiten gehören insbesondere für die Frauen ohnehin praktisch immer dazu. Männer werden gelegentlich auch als „Facharbeiter“ eingesetzt, meistens sind das dann Köche oder Kellner, hin und wieder aber auch ein Tischler wie im Stadtkaffee Bad Gandersheim.
Insgesamt ist die südniedersächsische Gastronomie also durchsetzt von Zwangsarbeitskräften, deren große Mehrzahl jung und weiblich ist und aus Osteuropa stammt. Dieser Zwangsarbeitseinsatz spielt sich zwar zu erheblichen Teilen hinter der Schanktür ab, dennoch bleibt er den Blicken der Kundschaft keineswegs verborgen. Als Gäste dürfen Zwangsarbeiter*innen einen Schankraum in aller Regel nicht betreten (siehe dazu den Blogbeitrag vom Juli 2024 "Vor der Kneipentür") . Als Arbeitskräfte aber müssen sie das: Es gehört durchaus zu den Aufgaben der in der Gastronomie arbeitenden Ausländer*innen, die Gäste zu bedienen. Gelegentlich spiegelt sich das sogar in ihrer Berufs- bzw. Tätigkeitsbezeichnung in amtlichen Dokumenten wider wie zum Beispiel bei der Bahnhofsgaststätte Northeim, deren Wirt Bernhard Schüttrumpf die vier dort eingesetzten Osteuropäerinnen bei der Krankenkasse als „Haus- und Büfetthilfen“ anmeldet.
Im Hotel Weisses Ross in Bad Gandersheim arbeiteten ein Ukrainer und mehrere Männer aus der Tschechoslowakei. Quelle: Stadtmuseum Bad Gandersheim
Natalia Katalkina erkrankt während ihrer Zeit als Zwangsarbeiterin auf der Eberburg mehrmals. Im Mai 1943 oder 1944 wird sie mit einer Blinddarmentzündung in die Chirurgische Klinik Göttingen gebracht, von wo sie als „Ostarbeiterin“ für einige Tage in die dortige Sanitätsbaracke verlegt wird. Krankengeld bekommt sie nicht; es wäre allerdings zu dieser Zeit ohnehin nicht an sie, sondern an den „Arbeitgeber“ ausgezahlt worden. Als die junge Frau im Sommer 1944 erneut krank wird und mehrere Wochen an einer Zellgewebsentzündung leidet, wird ihr dagegen Krankengeld zugesprochen – die Regelungen haben sich geändert. Sie erhält eine Reichsmark pro Tag.
Bei anderen Zwangsarbeiter*innen aus der Gastronomie finden sich in den Krankenkassenunterlagen neben Erkrankungen auch Unterbrechungen der Versichertenzeiten, deren Ursachen nicht angegeben werden. Nicht selten verbergen sich dahinter Haftzeiten wie etwa bei einer „Ostarbeiterin“, die in der Gaststätte Walter Wicke in Einbeck (Tidexerstraße 1) arbeiten muss und am 28. August 1944 von der Gestapo verhaftet wird. Die Verhältnisse in der Gastronomie waren für die dort beschäftigten Zwangsarbeiter*innen sicherlich nicht selten „zum Weglaufen“, wie wir in unserer Ausstellung am Beispiel der Göttinger Konditorei Cron & Lanz zeigen.
Die Eberburg wird nicht mehr als Hotel betrieben und befindet sich aktuell (2024) im Umbau zu einer „Seniorenresidenz“. Foto: Günther Siedbürger, Göttingen