BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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Dezember 2023 | Neues aus der Recherche Teaserbild

Oh süße Weihnachten!

Oh Zucker, du bist einzigartig. Wenn du im Mund schmilzt, gibt es nichts als süßen Genuss. Du spendest Zufriedenheit und Trost. Du schmeckst pur, in Lebkuchen und Keksen, in Torten und Cremes, in Konfitüre und Pralinen. Und als Kandis veredelst du den Tee. Süßgebäck ist für die meisten Menschen ein reines Vergnügen. Der Geschmack weckt Erinnerungen an die Kindheit, an Feiertage, an das Kaffeetrinken mit Familie und Freund*innen. Doch die Süße hat auch eine dunkle Seite. Zucker und Krieg sind eng miteinander verwoben. Und im nationalsozialistischen Deutschland war der süße Genuss hochpolitisch.

Es war ein Wirtschaftskrieg, der den Aufstieg der europäischen Zuckerrübenindustrie ermöglichte. Mit der sogenannten Kontinentalsperre von 1806 bis 1813 stoppte Napoleon die Einfuhr von tropischem Rohrzucker, den das britische Königreich von Sklaven in seinen Kolonien produzieren ließ, nach Europa. Zugleich förderte der französische Kaiser die innovative Zuckergewinnung aus Rüben, so dass immer mehr Rübenzuckerfabriken auf dem Kontinent entstanden. Das Ende des britischen Sklavenhandels im Jahr 1807 und die anschließende Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien bis 1838 taten ein Übriges. Der teure Rohrzucker war weitgehend verdrängt – und der weitaus billigere Rübenzucker wurde für die breite Bevölkerung erschwinglich. Was einst nur ein Luxus für Reiche gewesen war, war seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein Grundnahrungsmittel.

Im Ersten Weltkrieg führten Knappheit und Rationierung von Lebensmitteln – einschließlich Zucker und Zuckersirup – zu großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Die anfängliche Kriegseuphorie wich zunehmend einer Kriegsmüdigkeit. Im Herbst 1915 und im Sommer 1916 kam es in ganz Deutschland zu Unruhen, als Frauen gegen die Verknappung protestierten und eine bessere Lebensmittelversorgung forderten. Im Zweiten Weltkrieg zogen die Nazis ihre Lehren daraus. Sie wollten unbedingt sicherstellen, dass die gesellschaftliche Unterstützung für den Krieg erhalten blieb. Zudem war es für das nationalsozialistische Deutschland von zentraler ideologischer Bedeutung, dass „rassisch wertvolle“ Deutsche auch im Krieg genug zu essen hatten.


Zucker für die Kriegsanstrengungen

Zucker war deshalb äußerst kriegswichtig. Er wurde für die Haltbarmachung von Lebensmitteln gebraucht, für Dosenkonserven, aber auch, um die Soldaten an der Front mit Vitaminbonbons zu versorgen. Wehrmacht und SS sollte es beim Erobern und Morden an nichts mangeln. In Südniedersachsen lieferte die Zucker- Kandis- und Bonbonfabrik der Firma Wüstenfeld & Sohn in Oberscheden bei Hann. Münden bis zu 75 Prozent ihrer Bonbonproduktion an die Wehrmacht. Als anerkannter Wehrwirtschaftsbetrieb bekam das Unternehmen ohne große Aufwand Zwangsarbeiter*innen für die Produktion. Um die Jahreswende 1941/42 schufteten 16 französische Kriegsgefangene und drei serbische Zivilarbeiter in nahezu allen Arbeitsbereichen. Anfang 1942 sicherten diese unfreiwilligen Arbeitskräfte zusammen mit 96 Deutschen (davon 30 Saisonarbeiter*innen) die Lieferung von 1.500 Zentnern Vitaminbonbons an die Wehrmacht – pro Monat. Das waren 75 Tonnen. Der Jahresabsatz lag bei 1,5 Millionen Rollen Drops. Dank der garantierten Abnahme durch die Wehrmacht waren die Gewinne gesichert, das unternehmerische Risiko gering.

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Ansichtskarte um 1900 von der Zucker- Kandis- und Bonbonfabrik der Firma Wüstenfeld & Sohn in Oberscheden bei Hann. Münden. Quelle: Bilder der KBS 257, Sammlung Flader

Im Zuge der „totalen Mobilisierung“ für die Rüstungsproduktion ab dem Winter 1943 mussten die Unternehmen der Lebensmittelindustrie ihre Produktion rechtfertigen. Sie mussten begründen, warum sie weiterhin Rohstoffe, deutsche Arbeitskräfte und/oder ausländische Zwangsarbeiter*innen benötigten. Im Bestreben, Produktion und Profite zu steigern, priesen sie sich als kriegswichtig an. In einem undatierten Memorandum über die kriegswirtschaftliche Bedeutung der Hausbäckerei argumentierte die Firma Dr. Oetker –1937 als nationalsozialistischer Musterbetrieb ausgezeichnet – nicht nur mit der Kalorienversorgung der Soldaten. Ebenso hervorgehoben wurde die emotionale Bedeutung von „Kriegssendungen“: die liebevoll selbstgebackenen Kuchen, die Mütter, Schwestern, Ehefrauen oder Töchter den Soldaten schickten, als Verbindung zwischen Kriegsfront und Heimatfront:

Die Verbundenheit zwischen Front und Heimat kann eben nicht allein im Seelischen liegen, sie verlangt nach realem Ausdruck, und da nur Selbstversorger sogenannte Fettpakete schicken können, bleibt der großen Masse der Hausfrauen eben fast nur die Möglichkeit, Gebäck ins Feld zu senden. Dabei spielt nicht allein der Wert des Gesandten als Nahrungsmittel eine Rolle, sondern auch das Bewußtsein der darauf verwendeten Liebe und Opferbereitschaft. Der Feldsoldat hat … ein ausgesprochenes Bedürfnis, ja oft einen Heißhunger auf Süßigkeiten und Süßspeisen, also hauptsächlich auf Backwaren.


Bittere Süße

Um die Lebensmittelversorgung an der Heimatfront wie an der Kriegsfront zu sichern, vermittelten die Arbeitsämter Zwangsarbeiter*innen an Bauernhöfe und große Landwirtschaftsbetriebe, an Zucker- und Konservenfabriken. Bäckereien in Südniedersachsen bewarben sich erfolgreich um Zwangsarbeitskräfte, um das Grundnahrungsmittel Brot produzieren zu können. So wurden die französischen Kriegsgefangenen Marcel Cordaq und Antoine Colak spätestens seit Oktober 1941 frühmorgens aus dem Lager Jugendherberge abgeholt, um in der Bäckerei und Konditorei Adolf Arens in Hann. Münden Brot zu backen. Darüber hinaus arbeitete die 16-jährige Valentia (Valentina) Haritonowa aus Russland seit November 1942 als Hausmädchen im Haushalt der Familie Arens und der große Garten der Familie wurde von dem belgischen Zwangsarbeiter Franziskus Meganck gepflegt, der auch als Hausmeister tätig war. Beide wohnten mit im Arens’schen Haus in der Langen Straße und standen der Familie damit ständig zur Verfügung.

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Vor dem Haus der Bäckerei und Konditorei Adolf Arens in Hann. Münden, Adolf-Hitler-Straße, heute Lange Straße, 47. Von links nach rechts: Der Geschäftsinhaber Adolf Arens, der französische Kriegsgefangene Marcel Cordaq, ein deutscher Lehrling, Konditor Hagemann, der französische Kriegsgefangene Antoine Colak, Quelle: Kreisarchiv Göttingen/Irmgard Gemm, Hann. Münden

Trotz Kriegs sollte es weiterhin auch Kuchen und Süßgebäck geben. Konditoreien bekamen Zwangsarbeitende zugewiesen, die bei der Herstellung von süßen Luxuswaren für die deutsche Gesellschaft helfen sollten. In Göttingen profitierte davon unter anderem die bis heute bestehende Café-Konditorei Cron & Lanz. Auch mit der Hilfe von Zwangsarbeiter*innen sorgte Cron & Lanz dafür, dass die Göttinger Bürger*innen während des nationalsozialistischen Eroberungskriegs nicht auf köstliche Pralinen, Torten, Kuchen und Konfekt verzichten mussten.

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Passbild von Arthur Crol aus Mechelen, Belgien, aufgenommen wahrscheinlich im Jahr 1944, als er
17 Jahre alt war. Er musste damals bereits seit fast drei Jahren bei Cron & Lanz arbeiten. Seine Mutter Maria Cecilia Crol und seine zwei Jahre ältere Schwester Gustavina Julia Crol arbeiteten zwangsverpflichtet seit Mitte Mai 1941 in der Konditorei.
Quelle: Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. 124/15, Bl. 162

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Laut Listen der Allgemeinen Ortskrankenkasse für die Stadt Göttingen kam der 14-jährige Arthur Crol im Oktober 1941 zur Konditorei Cron & Lanz und arbeitete dort wie seine Mutter Maria Cecilia Crol bis zur Befreiung 1945. Seine Schwester Gustavina Julia Crol arbeitete demnach nur bis September 1944 als Hausgehilfin dort. Unklar bleibt, was mit ihr danach geschah. Quelle: Archiv des Service des Victimes de la Guerre (AVG) im Ministère de la Santé Publique in Brüssel.

Der süße Genuss half der deutschen Bevölkerung, die Illusion eines normalen Alltags aufrechtzuerhalten. Zugleich bestärkte er die Mitglieder der deutschen „Volksgemeinschaft“ darin, Angehörige eines privilegierten Volks zu sein. Zucker wurde so zu einem wichtigen Bestandteil der nationalsozialistischen Kriegspolitik und -propaganda.

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Postkarte mit der Innenansicht des Cafés Cron & Lanz, Poststempel Mai 1933.
Quelle: Städtisches Museum Göttingen, Fotosammlung