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Hunger und Zwangsarbeit: Wofür die Vierundvierzig steht
26. Januar 2013, in einem Altenheim in Amsterdam Noord. Es ist der letzte Sonnabend des Monats, und das bedeutet: Bingoabend. Der Vorsitzende der Bewohnerkommission liest die Zahlen vor. Immer, wenn die 44 drankommt, erhebt Frau Slothouwer ihre Stimme: „Der Hungerwinter“. Und alle sehen sie verdattert an. Aber die Seniorin weiß genau, wovon sie spricht.
September 1944, Niederlande: Die Alliierten befreien den südlichen Landesteil von der NS-Besatzung. Norden und Westen aber bleiben bis zum Mai 1945 deutsch besetzt. Und im Südosten, in der Provinz Limburg, verschieben sich die Frontlinien ständig, so dass die Deutschen hier noch im Oktober 1944 bei den kerk-razzia’s fast 3.000 Jungen und Männer aus den Kirchen holen und zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppen können.

Aushang der deutschen Besatzer in Rotterdam am Vorabend der großen Razzia von 1944. Quelle: www.commons.wikimedia.org
Übersetzung
„Auf Befehl der Deutschen Wehrmacht müssen sich alle Männer im Alter zwischen 17 und 40 Jahren für den Arbeitseinsatz anmelden. Dazu müssen sich alle Männer dieses Alters unmittelbar nach Empfang dieses Befehls mit der vorgeschriebenen Ausrüstung auf die Straße stellen. Alle anderen Bewohner, auch Frauen und Kinder, müssen in den Häusern bleiben, bis diese Aktion beendet ist. Die Männer der genannten Jahrgänge, die bei einer Hausdurchsuchung im Haus angetroffen werden, werden bestraft, indem auf ihren Privatbesitz zugegriffen wird. Nachweise von Freistellungen von zivilen oder militärischen Behörden müssen zur Kontrolle beigebracht werden. Auch solche, die solche Nachweise haben, sind verpflichtet, sich auf die Straße zu begeben. Es muss mitgebracht werden: warme Kleidung, feste Schuhe, Decken, Regenschutz, Essgerät, Messer, Gabel, Löffel, Trinkbecher und Butterbrote für einen Tag. Mitgebrachte Fahrräder bleiben Eigentum des Besitzers. Die tägliche Vergütung besteht aus guter Kost, Tabakwaren und fünf Gulden. Für die zurückgebliebenen Familienangehörigen wird gesorgt. Es ist allen Einwohnern der Gemeinde verboten, ihren Wohnsitz zu verlassen. Auf jene, die versuchen zu fliehen oder Widerstand leisten, wird geschossen.“
Um die deutschen Nachschubwege zu treffen, treten die etwa 30.000 niederländischen Eisenbahner in den Streik und gehen in den Untergrund. Bis zur Befreiung werden sie das durchhalten. Die deutschen Besatzer reagieren mit Vergeltungsmaßnahmen und blockieren für sechs Wochen sämtliche Lebensmittel-, Treibstoff- und Kohletransporte in den Westen der Niederlande, das eigentliche Holland mit den großen Städten Den Haag, Rotterdam und Amsterdam. Auch danach lassen sie nur noch wenig durch. Außerdem setzen sie Teile des Landes unter Wasser. Im strengen Winter 1944/45 frieren viele Gewässer, darunter das Ijsselmeer, zu. Auch über das Wasser kann nun nichts mehr transportiert werden.
Die Bevölkerung im Westen der Niederlande leidet rasch dramatisch. Um der Kälte zu trotzen, werden Straßenbahnschwellen verfeuert, Bäume in Parks gefällt und hölzerne Teile leerstehender Häuser demontiert, wodurch es zu Gebäudeeinstürzen mit Toten kommt. Schon im November 1944 decken die Lebensmittelrationen den Bedarf eines aktiven Erwachsenen nicht einmal mehr zur Hälfte. Bald gibt es für einen ganzen Monat nur noch 800 Gramm Brot pro Person. Die Menschen essen Zuckerrüben und Tulpenzwiebeln, von denen wegen fehlender Exportmöglichkeiten noch große Vorräte vorhanden sind. Auch Hunde und Katzen werden getötet und gegessen. Im Januar 1945 kommen die ersten Menschen mit Hungerödemen in die Krankenhäuser. Bald sterben die Menschen so schnell, dass die Leichname vorübergehend in Kirchen aufgebahrt werden müssen, weil die Gräber nicht rasch genug ausgehoben werden können. Insgesamt gehen in diesem Hongerwinter 1944/45 in den Niederlanden etwa 18.000 bis 22.000 Menschen direkt an Unterernährung zugrunde.

Während des Hongerwinters sind auch die Straßenbahnschienen in den Städten der westlichen Niederlande nicht sicher vor der Demontage.
Quelle: Nationaal Archief der Niederlande, Fotocollectie Anefo, Bestanddeelnummer : 917_7048
Foto: Hongerwinter, Neujahr 1945, Breda/Noord-Brabant: Ein vier Monate altes Baby ist deutlich unterernährt.
⚠️ Hinweis: Verstörender Inhalt
Das folgende Bild dokumentiert eine erschütternde Realität während der deutschen Besatzung der Niederlande. Aus Rücksicht auf die belastende Darstellung ist es hier nur über diesen Link einsehbar.
Es ist die Erfahrung dieser Not, die sich so tief in das Gedächtnis von Frau Slothouwer hineingefressen hat, dass sie auch 68 Jahre später sofort daran denken und es auch aussprechen muss, wenn sie nur die Zahl 44 hört.
Zu geschwächt für die Zwangsarbeit
Mitten in dieser Notzeit beschließen die nationalsozialistischen Machthaber, so viele männliche Niederländer im „wehrfähigen Alter“ wie möglich aus den großen Städten im besetzten Westen zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu verschleppen. So können diese auch keinen Widerstand gegen die deutsche Besatzung ihrer Heimat leisten. Am 10. und 11. November 1944 werden etwa 54.000 Männer zwischen 17 und 40 Jahren aus Rotterdam und Schiedam festgenommen und zur Zwangsarbeit deportiert. 50 von ihnen werden zu einer Baustelle der Reichsbahn in Hedemünden gebracht, wo sie am 19. November eintreffen. Am folgenden Tag stellt die Baustellenleitung bei Arbeitsantritt fest, dass 40 von ihnen (also 80 Prozent) derart geschwächt und krank sind, dass sie keinesfalls arbeiten können – es sind „Kräfte, die wohl zählen und essen, aber nichts leisten“, weswegen sie umgehend ausgetauscht werden sollen.
Doch auch jene zehn Männer, deren Gesundheitszustand noch eine Ausbeutung ihrer Arbeitskraft möglich erscheinen lässt, erhalten keineswegs ausreichend zu essen – genau wie die übrigen Zwangsarbeiter auf der Baustelle. Sie alle sind gezwungen, trotz Ausgehverbots nachts auf den Feldern heimlich nach Kartoffeln und anderen Lebensmitteln zu suchen, um zu überleben.

Die Baustellenleitung in Hedemünden beklagt den Zustand der niederländischen Zwangsarbeiter, die bei der Razzia von Rotterdam verschleppt wurden und nun auf der Baustelle des Reichsbahn-Kraftwagenausbesserungswerks arbeiten sollen, es aber nicht können. Quelle: Stadtarchiv Hann. Münden
Ein Stück Brot für 200 Mark
Ähnlich geht es auch einer Gruppe von Niederländern, die bereits im Oktober 1944 bei den kerk-razzia’s aus der Provinz Limburg in das südniedersächsische Dorf Hilkerode verschleppt wird, um auf der Baustelle der Schickertwerke in Rhumspringe Zwangsarbeit zu leisten. Einige von ihnen erinnern sich Jahrzehnte später im Interview lebhaft an den Hunger und an die Bettelei um Essen in den Dörfern der Umgebung:
„Das Essen in Rhumspringe war so schrecklich schlecht. Und im Lager in Hilkerode bekamen wir immer zu wenig zu essen. Hunger hatte jeder. Ich war klein und hatte trotzdem Hunger. Abends, wenn es nur irgendwie ging, kroch man früh ins Bett, nur damit man dann im Schlaf den Hunger vergessen konnte.“
Frits Winkelmolen, Neer/Provinz Limburg, damals 22 Jahre alt
Foto: Frits Winkelmolen vor der elterlichen Werkstatt, kurz vor Kriegsbeginn.
Quelle: Lena Winkelmolen-Schreurs, Neer

„Die Versorgung mit Essen war nicht gut. Wir verlangten alle immer nach Donnerstagen. An Donnerstagen bekamen wir ein Brot und ein Säckchen weißen Zucker. Damit mussten wir dann vier oder fünf Tage aushalten. Die meisten aber dachten sich: ‚Was soll’s?‘ und aßen das auf einmal auf. Und dann mussten die wieder warten auf die Suppe.
Und leben natürlich von Streifzügen an Haustüren um Kartoffeln und Butterbrote. Und diese Kartoffeln; wir hatten in unserer Baracke einen großen Ofen … wir schnitten uns die Kartoffeln dann in dünne Scheiben und klebten die dran. Die wurden dann an einer Seite gebacken und dann drehten wir diese um und die wurden von der anderen Seite gar. Das Schwarze zogen wir von den Scheiben herunter und aßen die dann auf.“
Jo Pouls, Neer/Provinz Limburg, damals 16 Jahre alt
Foto: Jo Pouls in Göttingen 2010
Quelle: Alex Van Heugten, Liessel

Theo Gielen aus Panningen in der Provinz Limburg, zur Zeit seiner Zwangsarbeit 21 Jahre alt, erzählt:
„Ein Russe verkaufte Brot. Ein Russe! Der hatte ja selber nichts. Ich habe für so ein Stückchen Brot 200 Mark gegeben. 200 Mark, die konnte ich nicht essen, aber das Brot schon. Da denkst du, wie geht das nur alles…“
Zum Vergleich: Der offizielle Preis für einen Laib Brot liegt damals weit unter einer Reichsmark. Und auch wenn Kaufkraftvergleiche zwischen verschiedenen Epochen immer schwierig sind (und zu Zeiten von Krieg und Schwarzmarkt erst recht): Nach Angaben der Bundesbank entsprächen 200 Reichsmark heute etwa 920 Euro.
Theo Gielen fährt fort:
„Dass ich betteln gehen musste, das fand ich schwierig, das fand ich sehr schwierig. Und man hatte solch einen Hunger, man musste einfach gehen. Tja. Und ich ging dann auch immer alleine, niemals mit anderen. Denn das ist gar nicht gut. Alleine kriegste schon mal was, mit zwei oder drei Mann aber nicht mehr.“
Standbild aus dem Interview mit Theo Gielen vom 16. Oktober 2007
Quelle: Medienstation im Ausstellungsraum
Dramatische Folgen der Unterernährung
Andere niederländische Zwangsarbeiter werden in Deutschland halbwegs ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt. Das gilt beispielsweise für die Studenten, die in Göttingen auf dem Flakzeugamt Egelsberg und in den Uni-Kliniken arbeiten müssen.
Dort, wo dies nicht der Fall ist, sind die Folgen der Unterernährung mitunter dramatisch. Als amerikanische Truppen Hann. Münden am 7. April 1945 von der NS-Herrschaft befreien, stirbt nur neun Kilometer die Werra aufwärts der junge niederländische Zwangsarbeiter Franciscus Gijzen.
Der gebürtige Rotterdamer ist 18 Jahre alt, als er im Mai 1943 nach Deutschland in das Lager Mönchehof bei Kassel kommt, wo er für die Firma Henschel & Sohn als Schlosser arbeiten muss. Henschel war vor dem Zweiten Weltkrieg der größte Lokomotivbauer Europas; im Nationalsozialismus wird das Werk zu einem wichtigen Rüstungsbetrieb, in dem neben Kriegslokomotiven z. B. Geschütze und Panzer hergestellt werden. Mehrere tausend ausländische Zwangsarbeiter*innen werden hier eingesetzt, Franciscus Gijzen ist einer von ihnen. Gegen Ende des Krieges erkrankt er an Lungentuberkulose und stirbt daran „auf Transport in Hedemünden“. Es spricht jedoch viel dafür, dass ihn letztlich der Hunger das Leben gekostet hat: Einer der wichtigsten Risikofaktoren für Tuberkulose ist Unterernährung.
Die Meldung der Gemeinde Hedemünden im Rahmen einer Suchaktion der Alliierten gibt keinen Aufschluss über Franciscus Gijzens Zwangsarbeiterschicksal.
Quelle: Arolsen Archives, DE ITS 2.1.2.1 NI 034 3 DIV ZM, Doc ID 76754188
Der Leichnam von Franciscus Gijzen wurde in der Nachkriegszeit in seine Heimatstadt Rotterdam umgebettet und dort auf dem Friedhof Rotterdam-Zuid beigesetzt. 1971 erfolgte mit dem Einverständnis seiner Familie die Überführung auf das Nationaal Ereveld Loenen, den Nationalfriedhof Loenen (Apeldoorn).
Hier sind fast 4.000 niederländische Kriegsopfer beigesetzt.
Quelle: www.oorlogsgravenstichting.nl/personen/55856/franciscus-gijzen
Nur ein Jahr älter als Franciscus Gijzen ist Johan Urbanowitz aus Haarlem in den Niederlanden. Der gelernte Bäcker muss von Ende 1943 an zunächst als Hilfsschweißer bei Henschel in Kassel arbeiten, bis die Bäckerei Sohl in Benniehausen im April 1944 eine Fachkraft benötigt und er dorthin verpflichtet wird. In der Bäckerei muss er selbst keinen Hunger leiden. Er vergisst aber nicht, dass andere Zwangsarbeiter*innen hungern. Und er erhält immer wieder Briefe seiner Mutter aus Haarlem, die ihm berichtet, wie schwer es für sie ist, ohne ihn die Familie zu ernähren.
Als sich die Gelegenheit ergibt, stiehlt Johan Urbanowitz Brotmarken aus einer beschädigten Holzkiste in der Bäckerei und steckt einen Teil einer Zwangsarbeiterfamilie im Ort zu. Die übrigen Marken schickt er an seinen Freund Johan de Koning, Zwangsarbeiter bei Henschel & Sohn, auf dass dieser sie im Kasseler Lager Fasanenhofschule verkaufe. So bekommen die Niederländer in Kassel etwas mehr zu essen und Urbanowitz kann mit dem Erlös seine Mutter unterstützen. Doch der Handel fliegt auf, Urbanowitz und sein Freund werden von der Gestapo verhaftet. Beide werden vom Sondergericht Hannover verurteilt und müssen bis zum Kriegsende im Gefängnis bleiben. Johan de Koning betont in seinem Schlusswort vor Gericht ausdrücklich, er habe „aus Hunger gehandelt“.

Deckblatt des Urteils des Sondergerichts Hannover gegen Johan Urbanowitz.
Quelle: Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann 171a Hannover Acc 28-66 Nr. 517

Nach Kriegsende suchte das Niederländische Rote Kreuz nach Johan Urbanowitz. Erst im Mai 1946 erhielt es die Auskunft, dass der Gesuchte repatriiert wurde und wieder in den Niederlanden war.
Quelle: Arolsen Archives, DE ITS 2.1.1.1 HE 028 NIE ZM 01, DocID: 86623371.
Die Deutschen lernen den Hunger erst später kennen
Auch in Göttingen wird gehungert. Der Leiter des Botanischen Gartens Prof. Richard Harder beschwert sich Ende März 1945 über englische Kriegsgefangene aus dem Lager, das unmittelbar nebenan im Kulissenbau des Städtischen Theaters eingerichtet ist. Sie sind so verhungert, dass sie in den Botanischen Garten und von dort in Harders Privatgarten eindringen. Sie „betteln nach Brot und Kartoffeln“ und stehlen nachts Gemüse, wenn sie nicht von ihm „fortgejagt“ werden.
Die deutschen Einwohner*innen Göttingens trifft der Hunger dagegen (noch) nicht. Die Produktion der Konsumgüterindustrie wird während des Krieges kaum gedrosselt und für die Arbeit in der Landwirtschaft hat man die ausländischen Zwangsarbeiter*innen. Obzwar es Lebensmittel fast nur noch auf Marken gibt, ihre Qualität sinkt und die Zeiten vorbei sind, als Wehrmachtssoldaten belgische Pralinen und Lebensmittelpakete aus den überfallenen Ländern mitbrachten: Ernsthafte Ernährungsprobleme kennen die Deutschen während des Krieges nicht.
Voller Empörung klagt Richard Harder beim Kurator der Universität, dass nur einen Tag nach dem „Besuch“ seines Privatgartens durch hungernde britische Kriegsgefangene nun auch Göttinger „Soldaten und Zivilisten, Erwachsene und Kinder“ in den Botanischen Garten eindringen, ebenfalls unberechtigt. Sind auch sie auf der Suche nach Nahrungsmitteln? Keineswegs: Sie „spielen, pflücken Blumen, zerschlagen Porzellanschilder und treiben ihre sonstigen Belustigungen“, so Harder. Es klingt nach sorgenfreiem Sonntagsspaß. Was Hunger ist, wird die Göttinger Bevölkerung erst in den Monaten nach der Befreiung und Besetzung durch die Alliierten erfahren.
Weitere Informationen:
zum Thema Hunger |
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