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August 2025 | Neues aus der Forschung Teaserbild

Von Göttingen in die NS-Tötungsanstalt: Der Avantgardekünstler Paul Goesch

Paul Goesch ist ein anerkannter Künstler und Architekt. Aber er hat psychische Probleme. 13 Jahre verbringt er deshalb in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wird er 1934 in die brandenburgische Landesanstalt Teupitz verlegt und 1940 im Zuge der NS-Krankenmorde in der Tötungsanstalt Brandenburg/Havel ermordet.

Paul Goesch wird 1885 als Sohn eines Landgerichtsrates in Schwerin geboren und wächst nach einem Umzug der Familie in Berlin auf. Er ist ein gestalterisch begabter Mensch, der die letzten Jahrzehnte des deutschen Kaiserreichs, den Ersten Weltkrieg und die Revolutionen um 1918 miterlebt hat und als junger Erwachsener nach neuen gesellschaftlichen, individuellen und künstlerischen Wegen sucht.

Anfang der 1920er-Jahre wird er Teil der Berliner Kunstszene. Als Mitglied der Künstlergruppen „Arbeitsrat für Kunst“ und „Novembergruppe“ nimmt er aktiv am kulturellen Leben teil. Die Galerien E. Twardy in Berlin und Flechtheim in Düsseldorf stellen seine Werke aus – vor allem kleinformatige Aquarelle und Zeichnungen. Seine Werke werden in der Fachpresse besprochen, die Kritiken sind durchweg positiv.

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Ein frühes Aquarell Goeschs aus der Prinzhorn Sammlung in Heidelberg
Foto: David Rojkowski

Neben seinen künstlerischen Aktivitäten widmet sich Goesch, der Architektur studiert hat, auch Fragen der visionären Architektur. Er nimmt 1919 an der Ausstellung „Unbekannte Architekten“ in Berlin teil, später beteiligt er sich an der Briefgemeinschaft „Gläserne Kette“ – zusammen mit späteren Architektur-Größen wie Bruno und Max Taut, Walter Gropius, Hans Scharoun, Wenzel August Hablik oder Hans und Wassilli Luckhardt. Mit Bruno Taut, dem Gründer der Gemeinschaft, arbeitet er bei der Ausmalung des Festsaals des Ledigenheims Schöneberg in Berlin.

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Entwurf zu einem Volksspeisehaus an einem See  | Quelle: Centre canadien d’architecture, Montreal

Produktiver Künstler mit angeschlagener Gesundheit

Diese vielversprechende Karriere wird jedoch schon in frühen Jahren immer wieder durch psychische Probleme und Aufenthalte in Kliniken ausgebremst. 1921 beginnt schließlich Goeschs langjähriger Aufenthalt in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen, der mit kurzen Unterbrechungen fast 13 Jahre dauern soll. Der Weg führt ihn nicht zufällig nach Göttingen. Hier lebt seine Schwester Lili, die mit dem Psychiater Rudolf Redepenning verheiratet ist, dem Leiter der benachbarten Provinzial-Erziehungsanstalt Göttingen. Dieser übernimmt für seinen Schwager die Pflegschaft und sorgt so für eine gute Behandlung.

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Verwaltungsgebäude des Provinzialerziehungsheims Göttingen, 2006
Foto: Frauke Klinge, Geschichtswerkstatt Göttingen

Die Zeit in Göttingen gehört zu den produktivsten Schaffensphasen des Künstlers, auch weil er Zugang zu Papier und Farben hat. Es entstehen Hunderte oder gar Tausende Aquarelle, Zeichnungen und andere Kunstwerke wie Buchillustrationen. Von Göttingen aus nimmt Goesch an zahlreichen Ausstellungen in Berlin teil. Das endet jedoch schon bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933.

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Paul Goesch, Selbstbildnis, 14. März 1923  |  Quelle: Sammlung Prinzhorn, Heidelberg

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2008 restauriertes Wandbild Flucht nach Ägypten von Paul Goesch, auf dem Dachboden des Direktorengebäudes der Erziehungsanstalt in Göttingen, heutige Justizvollzugsanstalt Rosdorf
Quelle: Freundeskreis Paul Goesch/Christoph Mischke, Göttinger Tageblatt, März 2009

Opfer der menschenfeindlichen NS-Ideologie

Nach der Entlassung seines Schwagers als Direktor der Erziehungsanstalt und dem Wegzug der Familie aus Göttingen, wird Paul Goesch im Oktober 1934 in die brandenburgische Landesirrenanstalt Teupitz verlegt. Bedingt durch die menschenfeindliche NS-Ideologie herrschen dort ganz andere Verhältnisse als zuvor in Göttingen. Goesch wird es verboten zu malen und er muss, wie alle anderen Patient*innen, Zwangsarbeit leisten. Er ist dazu jedoch kaum noch in der Lage, denn sein Gesundheitszustand verschlechtert sich zunehmend. 1937 werden seine Werke von den Nazis als „entartete Kunst“ diffamiert und aus der Mannheimer Kunsthalle entfernt.

Im Sommer 1940 wird Paul Goesch zusammen mit anderen Patient*innen in einem Sammeltransport in die Tötungsanstalt Brandenburg/Havel gebracht und dort am 22. August ermordet. Mehr als 9.000 Menschen mit psychischen Krankheiten und geistigen Behinderungen werden dort in den Jahren 1939/40 in der Gaskammer getötet.

Seinen gewaltsamen Tod verschleiern die Nazis, indem sie – wie bei allen Opfern – einen falschen Todesschein mit einer angeblich natürlichen Todesursache und einem falschen Sterbeort (Hartheim in Österreich) ausstellen und an die Familie verschicken.

Das Werk von Paul Goesch lebt weiter

Es ist davon auszugehen, dass heute noch weit über 2000 Werke von Paul Goesch existieren. Die größten Sammlungen befinden sich in Berlin (Berlinische Galerie, Akademie der Künste), Heidelberg (Sammlung-Prinzhorn), Montreal (Centre canadien d’architecture) sowie in Hamburg (Kunsthalle) und Mannheim (Kunsthalle). Bis heute sind über 60 Ausstellungen von Paul Goesch dokumentiert. Sie erfolgten zum einen während seiner aktiven Künstlerkarriere in den 1920ern, zum anderen nach der Wiederentdeckung des Werkes durch die Kunsthistorikerin Dr. Stefanie Poley, die heute den Freundeskreis Paul Goesch e.V. in Köln leitet.

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Werke von Paul Goesch in der Hamburger Kunsthalle  |  Foto: David Rojkowski

2024 eröffnete in Brandenburg/Havel eine partizipativ kuratierte Ausstellung des Stadtmuseums und der dortigen Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde. Der Autor dieses Beitrags hat im Rahmen der Vorbereitungen intensiv zum Leben und Werk von Paul Goesch recherchiert.