September 2025 | Neues aus der Forschung
Beschlagnahmt und diffamiert: Paul Goesch und die NS-Ausstellung „Entartete Kunst“
1937 veranstaltet das Reichspropagandaministerium eine Ausstellung mit Hunderten Werken der Klassischen Moderne und Avantgarde – aber nicht um die Schönheit dieser Werke zu würdigen, sondern um die „Produkte der Verfallszeit“ als Nicht-Kunst zu diskreditieren und die Künstler*innen zu demütigen. Unter dem Titel „Entartete Kunst“ reist die Wanderausstellung durch die Großstädte Deutschlands und Österreichs und wird bis 1941 von Millionen Menschen besucht. Auch mehrere Werke von Paul Goesch, der lange in Göttingen lebte, sind vertreten. In einer durchaus absurden Kombination.
Dass Politik in den Bereich der Kunst eingreifen und sie nach ihrer Vorstellung formen möchte, hat der Nationalsozialismus nicht exklusiv. Doch so radikal, menschenfeindlich und brutal wie das NS-Regime ging niemand sonst vor. Sprache, Bilder, Inszenierungen und ihr Einsatz in der Propaganda erschufen eine Parallelwelt, in der nur die NS-Ideologie geduldet wurde. Alle Lebensbereiche wurden davon erfasst. Und vier Jahre nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten eben auch die Kunst.
Wie viele NS-Begriffe kommt auch „Entartung“ aus der Medizin und Biologie. Ende des 19. Jahrhunderts wird der Begriff von dem Arzt und Kulturkritiker Max Nordau erstmals verwendet, um moderne Kunst zu kritisieren. Nordau beschreibt moderne Künstler*innen als „krankhafte Erscheinungen“ und sieht moderne Kunst als Zeichen psychischer Degeneration. Die Nazis übernehmen den Begriff und geben ihm eine ideologische, rassistische und politische Bedeutung. Strömungen wie Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus und Bauhaus gelten als „undeutsch“, „jüdisch“ oder „bolschewistisch“, und ihre Protagonist*innen werden öffentlich diffamiert. „Entartung“ wird im Nationalsozialismus zu einem Instrument der Ausgrenzung und Verfolgung und legitimiert die Zensur, Beschlagnahmung und Vernichtung moderner Kunst.

Abschrift der Vollmacht für Beschlagnahmungen für Adolf Ziegler, unterschrieben von Joseph Goebbels | Quelle: Kunsthalle Mannheim
Eine Ausstellung, die die Künstler*innen bloßstellen soll
Die bekannteste Ausprägung dieser Kunstverfolgung und Menschenfeindlichkeit ist die Ausstellung der Reichspropagandaleitung der NSDAP, die unter dem Titel „Entartete Kunst“ von Juli bis November 1937 in den Hofgarten-Arkaden in München zu sehen ist und von fast zwei Millionen Menschen besucht wird. Kuratiert hat sie Adolf Ziegler (1892–1959), Präsident der Reichskammer der bildenden Künste und einer der aktivsten NS-Funktionäre. Bis 1941 zieht die Schau durch zwölf weitere Städte (darunter Berlin, Leipzig, Düsseldorf, Hamburg, Salzburg, Wien). Dabei ändert sich jeweils die Auswahl der Werke. Arbeiten des Architekten und Avantgardekünstlers Paul Goesch, der 13 Jahre lang in Göttingen gelebt hat und 1940 von den Nazis ermordet wird (siehe Blog vom August 2025: Von Göttingen in die NS-Tötungsanstalt: Der Avantgardekünstler Paul Goesch), werden mindestens bei den Stationen in Berlin und Leipzig ausgestellt.

Ein Raum der Ausstellung „Entartete Kunst“, München, 1937
Quelle: https://www.artesvelata.it/ / CC-BY-SA 3.0
Die Ausstellung versammelt in ihrer Gesamtheit 650 Werke von rund 110 Künstler*innen, die zuvor in 32 deutschen Museen von Adolf Ziegler beschlagnahmt wurden. Unter ihnen sind viele renommierte Vertreter*innen der Moderne wie Marc Chagall, Otto Dix, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Emil Nolde oder, als eine der ganz wenigen Frauen, Paula Modersohn-Becker. Die Werke werden absichtlich unvorteilhaft in Szene gesetzt, indem sie zum Teil ohne Rahmen, viel zu eng gehängt, ohne Kontext präsentiert und teilweise von diffamierenden Sprüchen an den Wänden umgeben werden. Zudem steht neben einigen Werken der Betrag, den die Museen dafür bezahlt haben, versehen mit dem Kommentar „Bezahlt von dem Steuergroschen des arbeitenden deutschen Volkes“. Auch wenn die Propaganda mit dieser Schau Scham, Empörung und Spott auslösen will, stoßen die Kunstwerke bei vielen Besucher*innen auf starkes Interesse oder gar Bewunderung.

Plakat 1938 | Quelle:Bundesarchiv, Bild 183-H02648 / CC-BY-SA 3.0

Werbung für die Ausstellung in Salzburg: Transparent mit der Aufschrift „Ausstellung der NSDAP ‚Entartete Kunst‘ vom 4.-25. September 1938 im Festspielhaus“ und Hakenkreuz-Fahne an der Fassade eines Bahnhofsgebäudes.
Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-1974-020-13A/
„Säuberungen der Kunstsammlungen“
Einen Tag vor der Eröffnung der Ausstellung in den Hofgarten-Arkaden wird ebenfalls in München das Haus der Deutschen Kunst eröffnet. Die dort präsentierten und als „gesund“ bezeichneten Kunstwerke sollen zeigen, wie Kunst nach nationalsozialistischem Verständnis auszusehen hat. In seiner Eröffnungsrede greift Adolf Hitler die künstlerische Avantgarde und Moderne an. Einige Tage später folgt seine Anordnung, alle „entarteten“ Werke aus öffentlichen Sammlungen zu entfernen und zu beschlagnahmen. Zudem werden neue Grundsätze für die Ausgestaltung von öffentlichen Museen an die Bürgermeister versandt. Die „Säuberungen der Kunstsammlungen“ führt eine Kommission durch, die in den folgenden Monaten anhand von Künstler*innen-Listen alle Museen, städtischen und staatlichen Sammlungen sowie Kunsthochschulen inspiziert und die verfemten Werke in ein Depot nach Berlin verbringt. Die Werke werden anschließend teils öffentlich verspottet, mit Unterstützung ausgewählter Kunsthändler wie Hildebrand Gurlitt, Bernhard A. Böhmer oder Ferdinand Möller auf dem internationalen Kunstmarkt für Devisen verkauft oder vernichtet.
Insgesamt werden im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ mehr als 20.000 Werke beschlagnahmt – rund 5000 Gemälde, 12.000 Zeichnungen und Aquarelle, 3000 Druckgrafiken und 300 Skulpturen. Etwa 5000 Kunstwerke werden bei der Auflösung des Depots in Berlin am 20. März 1939 vernichtet.
Paul Goeschs „entartete“ Werke aus Göttingen
1937 werden aus den Kunstsammlungen der Universität Göttingen ein Gemälde von Paula Modersohn-Becker sowie ein Konvolut von Zeichnungen und Druckgrafiken von Johannes Hofer, Wilhelm Lehmbruck, Wilhelm Kolbe und Emil Nolde entfernt. Zudem zwei Werke von Paul Goesch mit den Titeln „Anbetung“ und „Madonna“. Die beiden Lithografien erschienen 1922 in einer Auflage von jeweils 125 Exemplaren in der Zeitschrift „Die Schaffenden“. Drei weitere Arbeiten von Paul Goesch werden in der Mannheimer Kunsthalle beschlagnahmt. Vermutlich (es gibt keine überlieferte fotografische Dokumentation) werden diese fünf Werke von Paul Goesch in der Ausstellung „Entartete Kunst“ präsentiert.

Paul Goesch: „Anbetung" | Quelle: Antiquariat Joachim Lührs; abrufbar nur solange das Werk nicht verkauft ist
Paul Goesch: „Madonna" | Quelle: Antiquariat Joachim Lührs; abrufbar nur solange das Werk nicht verkauft ist
Sicher ist, dass vier Werke von Goesch aus der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg in die Ausstellung aufgenommen werden, als die Schau 1938 in Berlin und Leipzig gezeigt wird. Die Ausstellungsleitung hat für die neuen Präsentationen hundert Kunstwerke aus dem Fundus der Sammlung Prinzhorn zu Vergleichszwecken geliehen. Damit versucht sie zu vermitteln, dass moderne Künstler*innen wie geisteskranke Menschen malen, also folglich auch geisteskrank sind. Paul Goesch ist damit der einzige Künstler, dessen Werke als Beispiel sowohl der professionellen Avantgarde als auch der „geisteskranken Kunst“ (heute als Art brut oder Outsider Art bekannt) aus psychiatrischen Sammlungen gezeigt wurden. Ob jemandem auffiel, wie absurd diese Kombination war, ist nicht überliefert.
