Januar 2025
Der lange Weg zur Entschädigung II: Zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zahlt Deutschland erstmals Gelder an ehemalige NS-Zwangsarbeitende, die in den Ländern des früheren Ostblocks leben. Aber auch die Menschen selbst rücken als vergessene Opfer ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. In einer dreiteiligen Serie zeichnen wir nach, wie es zu den beschämend späten – und geringen – Entschädigungszahlungen an frühere Zwangsarbeitende kam. Teil 2: Die Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ als Flucht nach vorn.
1998 einigen sich die Fraktionen des Bundestags auf eine Stiftung zur Entschädigung von Zwangsarbeit unter finanzieller Beteiligung der deutschen Wirtschaft. Grund dafür sind nicht ein schlechtes Gewissen, Reue oder gar der Wunsch nach Gerechtigkeit, sondern drohende Sammelklagen und Boykottdrohungen in den USA. Für die exportorientierte deutsche Wirtschaft wäre das ein Super-GAU. Diese Umstände führen zur Gründung der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“: Einige Großunternehmen bieten an, sich finanziell an einer humanitären Geste zu Gunsten ehemaliger Zwangsarbeitender zu beteiligen. Ein Schuldeingeständnis soll das aber ausdrücklich nicht sein.
Die Zusicherung von „Rechtssicherheit“ gegen weitere Klagen in den USA gilt dabei als Bedingung. Im August 2000 wird schließlich die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) gegründet. Deutsche Unternehmen beteiligen sich zur Hälfte an dem mit zehn Milliarden DM (umgerechnet rund 5,1 Milliarden Euro) ausgestatteten Fonds, der zur Entschädigung von ehemaligen Zwangsarbeiter*innen und anderen NS-Opfern sowie zur Einrichtung des Fonds „Erinnerung und Zukunft“ dienen soll.
In der Präambel des Gesetzes zur Errichtung der Stiftung vom 2. August 2000 heißt es:
„In Anerkennung, dass der nationalsozialistische Staat Sklaven- und Zwangsarbeitern durch Deportation, Inhaftierung, Ausbeutung bis hin zur Vernichtung durch Arbeit und durch eine Vielzahl weiterer Menschenrechtsverletzungen schweres Unrecht zugefügt hat, deutsche Unternehmen, die an dem nationalsozialistischen Unrecht beteiligt waren, historische Verantwortung tragen und ihr gerecht werden müssen, die in der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zusammengeschlossenen Unternehmen sich zu dieser Verantwortung bekannt haben, das begangene Unrecht und das damit zugefügte menschliche Leid auch durch finanzielle Leistungen nicht wiedergutgemacht werden können, das Gesetz für diejenigen, die als Opfer des nationalsozialistischen Regimes ihr Leben verloren haben oder inzwischen verstorben sind, zu spät kommt, bekennt sich der Deutsche Bundestag zur politischen und moralischen Verantwortung für die Opfer des Nationalsozialismus. Er will die Erinnerung an das ihnen zugefügte Unrecht auch für kommende Generationen wach halten.“
PDF: Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
PDF: Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika
Der Auszahlungsprozess
Die Verteilung der Mittel ist jedoch so organisiert, dass sie zu Konkurrenzkämpfen unter den Opfergruppen führt. Zudem wird die Beweislast den betagten Opfern auferlegt – sie müssen nun, rund 60 Jahre nach Kriegsende, beweisen, dass sie in Deutschland Zwangsarbeit geleistet haben.
In Kooperation mit sieben internationalen Partnerorganisationen wird die Auszahlung umgesetzt. Auf polnischer Seite ist es die Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung (FPNP). Diese Organisationen sind für die Antragsannahme, die Feststellung der Leistungsberechtigung und die Auszahlungen zuständig.
Die Menschen, die Anspruch auf Zahlungen haben, werden in drei Kategorien unterteilt:
Kategorie A: KZ- und Ghetto-Häftlinge erhalten einmalig 7669 Euro; Inhaftierte in Arbeitserziehungslagern und „anderen Haftstätten“ zwischen 3068 und 7669 Euro.
Kategorie B: Zwangsarbeiter*innen in der Industrie, im Handwerk und im öffentlichen Sektor erhalten 2556 Euro.
Kategorie C: Dank einer Öffnungsklausel können auch andere Opfergruppen berücksichtigt werden, u. a. Zwangsarbeiter*innen in der Landwirtschaft, in Privathaushalten und Kinderhäftlinge. Sie erhalten einmalig zwischen 536 und 2235 Euro.
Übersicht über die Entschädigungsleistungen aus dem Fonds der deutschen Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« an ehemalige polnische, in Polen lebende Zwangsarbeitende. Die in der Landwirtschaft eingesetzten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter bildeten die mit Abstand größte Gruppe:Quelle: Fundacja Polsko-Niemieckie Pojednanie (Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung)
Bis 2006 erhalten fast 484.000 Menschen in Polen eine Zahlung aus den Mitteln der Stiftung EVZ. Insgesamt werden 975,5 Millionen Euro ausgezahlt. Doch nicht alle Opfer-Gruppen werden berücksichtigt. Deutschland hat sich im Vorfeld bemüht, die Zahl der Empfänger*innen möglichst klein zu halten, die ost- und mitteleuropäischen Staaten haben dagegen für eine möglichst große Reichweite argumentiert. Am Ende bleiben etliche Gruppen ausgeschlossen:
NS-Opfer ohne entsprechende Nachweise ihrer Verfolgung,
polnische Staatsbürger*innen, die von NS-Behörden enteignet und ausgesiedelt wurden,
Rechtsnachfolger*innen von NS-Opfern, die vor 1999 verstorben sind,
Kriegsgefangene,
Menschen, die Zwangsarbeit verrichten mussten, jedoch nicht deportiert oder umgesiedelt wurden.
Władyslaw Stankowski blickt zurück:
"Das, was uns angetan wurde, das heute entschädigen – das kann keiner. Das ist doch alles – schäbig ist es, wenn man das heute betrachtet, wie sich jetzt,nach so vielen Jahre, wo die Leute alle nicht mehr leben und nichts mehr davon haben...? – das entschädigen, das kann keiner!"
Wiktorja Delimat meint:
"Wenn ich das 1945 bekommen hätte, oder 1950, als ich noch arm war und nichts hatte! Aber heute ...
Das ist doch gar nicht wiedergutzumachen. Die ganze Kindheit praktisch, die Jugendzeiten auch. Ist doch nicht wiedergutzumachen. ... Ja, so ist das aber. Man lebt damit."
Ringen um weitere Unterstützung
Nach dem Ende der Auszahlungen durch die Stiftung EVZ versucht die polnische Seite, weitere Mittel für die weiterhin bedürftigen Menschen zu gewinnen. Zum Teil erfolgreich:
Der österreichische Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit zahlt in den Jahren 2001 bis 2005 über 42 Millionen Euro an 23.000 Menschen in Polen aus, die zur Arbeit auf dem heutigen Gebiet Österreichs gezwungen wurden.
Aus Eigenmitteln der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung und des Fonds des „Londoner Raubgoldes“ erhalten 85.000 Menschen, hauptsächlich Menschen, die als Minderjährige Zwangsarbeit leisten mussten und noch gar kein Geld erhalten haben, 20 Millionen Euro.
Mehrere deutsche Städte und Gemeinden zahlen in den Jahren 2002 bis 2006 freiwillig insgesamt eine Million Euro an Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges auf ihrem Gebiet eingesetzt waren.
Humanitäre Gesten und neue Hüften
Weniger medienwirksam, aber für die einzelnen Betroffenen durchaus bedeutend, sind kleinere Projekte, die sich dem körperlichen und seelischen Wohlergehen der NS-Opfer widmen. Es sind hauptsächlich medizinische oder therapeutische Maßnahmen, die körperliche Beschwerden der betagten Menschen lindern sollen. So werden zwischen 2003 und 2007 in Deutschland und Österreich knapp 300 Patient*innen kostenlos Hüft- und Knieprothesen eingesetzt. Dies geschieht auf Eigeninitiative von deutschen und österreichischen Orthopäd*innen.
2005 startet die Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung ein weiteres soziales Programm, das Sanatorienaufenthalte für 1300 Menschen und Hüftoperationen für 56 Menschen in Polen beinhaltet. Diese Maßnahmen werden durch eine Spende von Friedrich Christian Flick in Höhe von fünf Millionen Euro an die Stiftung EVZ finanziert. Zudem beteiligt sich der Fonds „Erinnerung und Zukunft“ der EVZ mit 300.000 Euro an den Kosten von Aufenthalten polnischer und belorussischer NS-Opfer in polnischen Sanatorien.
Im Februar 2025 folgt Teil 3: Neue Begegnungen an alten Orten.