BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Dezember 2024 Teaserbild

Der lange Weg zur Entschädigung I: Kein Geld nach Polen

Ist ein Kriegsverbrechen wie die Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Deutschland überhaupt wiedergutzumachen? Und wenn ja, wie? Mit Geld, mit Gesten, mit der Übernahme von Verantwortung? In einer dreiteiligen Serie beleuchten wir, wie es zu den beschämend späten – und geringen – Entschädigungszahlungen kam. Teil 1: Warum insbesondere ehemalige Zwangsarbeitende aus Osteuropa so lange leer ausgingen.

Während des Zweiten Weltkrieges werden Millionen Menschen zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich und in den von Deutschland besetzten Gebieten verpflichtet. Eine der größten Gruppen sind dabei Menschen aus Polen, darunter auch Jugendliche und Kinder. Die Strukturen dafür werden von den deutschen Besatzungsbehörden bereits in den ersten Wochen nach dem Einmarsch im September 1939 mit der Gründung von deutschen Arbeitsämtern gelegt.

Zwang, Diskriminierung und Schikanen

Arbeitsbuch_Auslander_1942Bis zu ihrer Befreiung 1945 werden die verschleppten  „Fremdarbeiter“ vorwiegend in bewachten Unterkünften untergebracht, sind harten Restriktionen und rassistischen Gesetzen unterworfen und ihrer (bürgerlichen) Freiheiten und (Arbeitnehmer*innen-)Rechte beraubt. Sie leiden noch mehr als die deutsche Bevölkerung unter der Nahrungsknappheit und unter den Luftangriffen der Alliierten, weil ihnen der Zugang zu Luftschutzbunkern häufig verwehrt wird. Viele von ihnen sterben. Noch mehr verlieren ihre Gesundheit. Nach dem Krieg kehren die meisten in das zerstörte Polen zurück, wählen den schweren Gang in die Emigration oder bleiben als Displaced Persons bzw. später als Staatenlose in Deutschland.

Arbeitsbuch für Ausländer (1942) – Ausweisdokument für einen polnischen Zwangsarbeiter; darauf ein Aufnäher mit dem Buchstaben „P“, den alle polnischen Arbeiter*innen an ihrer Kleidung anbringen und tragen mussten. © CC0 1.0

Keine Entschädigung im Kalten Krieg

Zwar gehört die Zwangsarbeit bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zu den wichtigsten Anklagepunkten, doch für die Millionen Betroffenen interessiert sich die deutsche Öffentlichkeit kaum. Eine gerechte Entlohnung wird den ehemaligen Zwangsarbeitenden auch nach der Befreiung vorenthalten.

Um das NS-Unrecht zu regeln, werden in der Bundesrepublik Deutschland sogenannte Bundesentschädigungsgesetze verabschiedet. Sie lassen Ansprüche aus früherer Zwangsarbeit nur gelten, sofern dauerhafte Schäden nach einer Inhaftierung entstanden. Ansprüche auf entgangenen Lohn sind grundsätzlich von der Entschädigung ausgeklammert. Und: Wer in Osteuropa lebt, bekommt gar nichts.

Der Kalte Krieg bestimmt auf Jahrzehnte alle Politikfelder. Deshalb soll kein Geld aus der Bundesrepublik nach Polen fließen. Die DDR wiederum lehnt aufgrund ihres Selbstverständnisses als antifaschistische Neugründung jegliche Entschädigung für ausländische NS-Opfer ab. Zudem wird im internationalen Londoner Schuldenabkommen (1953) die Entschädigung von ausländischen Zwangsarbeiter*innen rechtlich als „Reparationsanspruch“ definiert und damit auf einen endgültigen Friedensvertrag verschoben. Dieser wird allerdings erst 1990 unterzeichnet (2+4-Vertrag).

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14-jähriger ukrainischer Zwangsarbeiter bei einem Berliner Kfz-Instandsetzungsbetrieb der Wehrmacht, Januar 1945
Fotograf: Pips Plenik, deutsches Propagandafoto
© Bundesarchiv, Bild 183-H26334 / CC-BY-SA, CC BY-SA 3.0 DE

Politik der Entschädigung nach 1990

1991 wird der Deutsch-Polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit als neue Basis der deutsch-polnischen Beziehungen unterzeichnet. Ähnliche Verträge schließt das vereinigte Deutschland mit weiteren ehemaligen Ostblock-Staaten ab. Sie sind die Grundlage für „Globalabkommen“, die erstmals Zahlungen an dort noch lebende NS-Opfer ermöglichen.

Zu den Antragsberechtigten zählen KZ-, Gefängnis- und Ghettohäftlinge, Häftlinge der sogenannten Polenlager in Schlesien, Zwangsarbeiter*innen, die für mindestens sechs Monate zur Zwangsarbeit deportiert wurden, sowie verfolgte Kinder unter 16 Jahren. Die Zahlungen gelten offiziell nicht als Entschädigung, sondern als symbolische, humanitäre Unterstützung für NS-Opfer. Regierung und Wirtschaft in Deutschland sehen ihre Verantwortlichkeit damit als erfüllt an.

Dass es dabei nicht bleiben wird, wird spätestens 1996 klar, als das Bundesverfassungsgericht eine wegweisende Entscheidung fällt: Entschädigungsklagen ausländischer Kläger*innen gegen den deutschen Staat oder gegen deutsche Unternehmen seien zulässig.

Im Januar 2025 folgt Teil 2: Zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit: Die Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ als Flucht nach vorn.

Online-Workshop in deutscher und polnischer Sprache | Vom Leben in der Zwangsarbeit und dem langen Kampf um Entschädigung: Wiktorja Delimat

0311_Delimat_DGB-Haus_grFolgen Sie Wiktorja Delimats Spuren: ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen als Zwangsarbeiterin im Landkreis Göttingen und ihrem jahrzehntelangen Kampf um Entschädigung für die erlittenen Qualen.

Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-
prozess wurde die millionenfache Verschleppung von Zivilist*innen zur Zwangsarbeit in das deutsche Reichsgebiet zwischen 1939 und 1945 als ein zentrales Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten verurteilt. Doch schon kurz danach vergaß man dieses Verbrechen in Deutschland gerne. Die westdeutsche Justiz setzte konsequent die politische Leitlinie der Bundesregierung um, individuelle Ansprüche der Opfer unter allen Umständen abzulehnen. So gut wie niemandem aus der Gruppe der ehemaligen ausländischen Zwangsarbeiter*innen gelang es im 20. Jahrhundert, eine individuelle Entschädigung von einem der beiden deutschen Staaten oder seinem früheren „Arbeitgeber“ zu erhalten.

Hier ein Einblick in die Lebensgeschichte von Wiktorja Delimat...

DE | Vom Leben in der Zwangsarbeit und dem langen Kampf um Entschädigung: Wiktorja Delimat

PL | O życiu na robotach przymusowych i długiej walce o odszkodowanie: Wiktorja Delimat

Der Workshop entstand in unserem Kooperationsprojekt „Rekonstruktion juristischer Verfahren über Zwangsarbeit in Südniedersachsen und Polen“ als Teil des Projekts „Schicksale aus Polen 1939-1945. Erinnern lokal & digital“ des Deutschen Polen-Instituts.