BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

August 2024 | Fundstücke Teaserbild

Eingesperrt im Tanzsaal

Am deutschen Tresen gibt es im Zweiten Weltkrieg keinen Platz für Menschen ost-, südost- und südeuropäischer Herkunft. Vielen Zwangsarbeitenden ist der Besuch von Gastwirtschaften streng untersagt. Allenfalls können sie durchs geöffnete Fenster eine Flasche Bier kaufen. Die Anbauten und Festsäle der Gaststätten sind dagegen oft gerammelt voll von Zwangsarbeitenden.

Vielerorts in Südniedersachsen beginnt der „Ausländereinsatz“ im Zweiten Weltkrieg mit polnischen Kriegsgefangenen, die in Arbeitskommandos in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Untergebracht werden sollen sie in Räumen, die abschließbar und ausbruchsicher sind, die zum Beispiel vergitterte Fenster haben und eine völlige Trennung von der einheimischen Bevölkerung gewährleisten. Außerdem muss es einfache Versorgungsmöglichkeiten und Zugang zu Wasser geben. In den Dörfern taugen dazu oftmals einzig die Säle der Gasthäuser. Wie das dann aussieht, beschreibt der Dorflehrer Lüdeke für Groß Schneen:

„Die Polen
Der Mangel an Männern im Dorfe wird in der Rübenernte besonders fühlbar. Der Herbst ist nass und kalt, auch die Kartoffeln sind noch nicht im Keller. Polnische Kriegsgefangene sollen in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Die Bauern melden ihren Bedarf beim Ortsbauernführer.

Als gemeinsames Lager wurde zunächst der Nörtemannsche Saal in Groß Schneen vorgesehen. Der Raum war aber nicht geeignet. Die Gefangenen sollen unbedingt gesondert gehalten werden. Das Lager wird nun in Friedland im Deichmann’schen Saale eingerichtet.

Morgens um 7 Uhr müssen von einem Mann die Gefangenen geholt werden. 40 braune Gestalten kommen nun täglich ins Dorf und werden auf die Höfe verteilt.

Es erscheinen bald strenge Vorschriften über den Verkehr mit den Polen. Sie müssen gesondert essen, sind aber mit in das übliche Kartensystem eingereiht. Abends führt sie ein Mann geschlossen nach Friedland.“

So fängt es an. Im weiteren Verlauf des Krieges werden immer neue Gruppen von Zwangsarbeitenden in den Gaststätten untergebracht. Kriegsgefangene aus Belgien und Frankreich, zivile Zwangsarbeitende aus Polen und den Ländern der Sowjetunion sowie „Italienische Militärinternierte“ müssen in den Veranstaltungssälen leben. Den Pächtern entgehen die Einnahmen aus den sonst hier üblichen Tanzvergnügungen oder Festen, dafür erhalten sie oder die Gasthausbesitzer (oftmals sind das Brauereien) aber eine Vergütung und verdienen nicht selten auch an der Essensausgabe.

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Bronisława Burek (geb. Haluch) und Wiktorja Delimat besuchten im Jahr 2010 das Gebäude der ehemaligen Gastwirtschaft Küster in Stockhausen, in das sie 68 Jahre zuvor als junge Zwangsarbeiterinnen eingesperrt worden waren. Foto: Lisa Grow, 2010

Als Bronisława Haluch und Wiktorja Delimat 1942 aus Polen nach Südniedersachsen verschleppt werden, um in der Zuckerfabrik Obernjesa zu arbeiten, wird die gesamte Gruppe aus 60 Mädchen und Frauen im Saal der Gastwirtschaft Küster im Nachbarort Stockhausen einquartiert. Auch für Zivilistinnen wie sie gelten dieselben scharfen Bedingungen wie zuvor für die polnischen Kriegsgefangenen. Wiktorja Delimats Schilderungen stehen exemplarisch für die Situation vieler Zwangsarbeitender, die in den Sälen von Gaststätten wie Gefangene gehalten werden:

„Ein Ausgang war nur hinten zur Toilette. Also da konntest du in die Küche gehen, da war ‘n Waschraum. Aber nicht auf den Hof. Das war alles abgeschlossen, das Gebäude war rundrum zu. Da war so’n alter Mann, der hat dann abends abgeschlossen – also raus durften wir nicht, nach draußen. Wir durften angeblich mit keinem sprechen. Mit Deutschen überhaupt nicht.“

Immerhin ist der Saal von Küster etwas weniger spartanisch eingerichtet als die meisten anderen Lager dieser Art, in denen es oft lediglich Strohsäcke und Decken gibt:

„Rundrum waren Doppelbetten, und auch in der Mitte. Und mehr war da nicht. Zum Essen hat sich jeder auf sein Bett hingesetzt und dann weggeschlabbert, was es gab. Also da gab’s keinen Esstisch oder sowas.“

Die hygienische Situation ist jedoch auch bei Küster katastrophal.

„Da war so ‘n kleines Waschbecken in dem Saal, da haste deine Schnute gewaschen und das war auch alles. Du hast keine Zahnbürste gehabt und keine Zähne geputzt. Wir hatten doch nichts. Da ist keine Hygiene gewesen! Gar nichts. Es gab doch gar keine Seife. Ich hatte so dicke Läuse auf’m Puckel. Wenn sie uns nach Deutschland geschleppt haben, hätten sie uns doch gut behandeln können. Hätten wir wenigstens anständige Wäsche bekommen. Hast doch kein Hemd, keine Unterwäsche, nichts! Du konn­test nicht Haare waschen, nichts. Und mit dem Zeug, was sie uns von Polen verschleppt haben, da sind wir bis hierher gekommen. Das Zeug hat noch so lange gehalten.“

„Das Zeug“, also die Kleidung, in der die Frauen und Mädchen verschleppt wurden, war aber natürlich völlig unzulänglich für die lange Zeit der schweren Arbeit in Deutschland. In fast allen Erinnerungen, sei es von ehemaligen Zwangsarbeitenden aus Osteuropa oder zum Beispiel auch aus den Niederlanden, findet dieses Problem Erwähnung. So kommt es, dass die ukrainischen Zwangsarbeiterinnen der Fallschirmfabrik Brüggemann in Hann. Münden sich aus der Fallschirmseide heimlich Kleidung nähen (siehe dazu den Blog-Beitrag vom März 2024). Auch die Polinnen aus dem Lager Küster in Stockhausen gehen das Risiko ein, beim Diebstahl erwischt zu werden:

„Die Zuckerberge, die wurden dann in die Säcke gepackt. Und das waren so schöne Säcke, dass wir sie doch geklaut und uns Hosen davon genäht haben. Wir hatten doch nichts zum Anziehen. Da bei Küster auf dem Saal.“

Sehr viele Säle von Gaststätten belegt die Deutsche Reichsbahn, einer der größten „Arbeitgeber“ für ausländische Zwangsarbeitende in der Region. Nicht nur in den Städten nutzt sie Gastwirtschaften und Hotels, sondern auch in jenen Dörfern der Umgebung, die einen Bahnhof haben. Von dort werden die Zwangsarbeitenden täglich mit dem Zug zu ihren Arbeitsplätzen transportiert. Allein das Ausbesserungswerk (RAW) Göttingen quartiert deutlich über 800 Menschen aus den von Deutschland besetzten Ländern in diversen Lagern in Gaststätten der Umgebung ein.

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Im ehemaligen Tanzsaal des Gasthofs Zur Mühle in Obernjesa lebten nacheinander Kriegsgefangene aus Belgien, Frankreich und der Sowjetunion sowie zivile Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion mit ihren Frauen und Kindern. Der Raum im ersten Stock war abgeschlossen und bewacht, die Fenster vergittert, die hygienischen Umstände katastrophal. Foto: Günther Siedbürger, 2024

Auch in diesen Reichsbahnlagern sind die hygienischen Verhältnisse oft sehr schlecht, wie das Beispiel der Gastwirtschaft Zur Mühle in Obernjesa zeigt. Sämtliche Fenster des Saales sind mit Stacheldraht gesichert, die Türen werden abgeschlossen und das Lager wird von Wachpersonal beaufsichtigt. Nachdem zunächst etwa 50 belgische, später französische und schließlich sowjetische Kriegsgefangene untergebracht wurden, dient der Saal der Reichsbahn ab September 1944 als Lager für zivile „Ostarbeiter“. Rund 70 Männer, Frauen und Kinder aus der Sowjetunion werden hier einquartiert. Der Dorfbewohner Heinz Schäfer erinnert sich:

„Die hatten bloß eine Tür offen da – zur Toilette mussten sie auf’n Mist, auf Deutsch gesagt. Die Fenster waren verrammelt, da war von außen was vor. Nach hinten raus und nach vorne auch.“

Die Männer werden täglich zur Arbeit ins Ausbesserungswerk Göttingen gefahren. Es ist ein regelrechter Gefangenentransport. In Elfriede und Heinz Schäfers Schilderung:

„Da hatten die ihren Waggon, und da mussten die denn rein. Die gingen gleich oben durch die Schranke, nicht durch die Sperre. Und dann in den letzten Waggon ‘rein. Das weiß ich noch.“

„Da war immer ein Wachmann mit bei, und war ein Waggon, ein Extra-Waggon, und da durfte kein anderer rein.“

Während die Männer aus der Sowjetunion in Göttingen schwere Zwangsarbeit verrichten, bleiben ihre Frauen und Kinder auch tagsüber im Saal eingesperrt. Sie sind der Wirtin, ihren Ressentiments und den katastrophalen Umständen des Lagerlebens ausgeliefert. Ihre Befreier, US-amerikanische Soldaten, finden den Saal vollkommen verdreckt und voller Läuse vor.

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Eine Gruppe polnischer Kriegsgefangener, die Zwangsarbeit in Gieboldehausen leisten musste. Quelle: Michael Döring, Gieboldehausen

Im Allgemeinen sind es vor allem Kriegsgefangene und osteuropäische Zivilpersonen, die in die Veranstaltungssäle gesperrt werden. Zivile Zwangsarbeitende aus Westeuropa erhalten dagegen öfters Unterkünfte in Gastzimmern – etwa im Hotel Rappenhof in Hedemünden, wo die Bahnmeisterei II Hann. Münden 24 französische Zivilarbeiter einquartiert, oder im Braunen Hirsch und dem Gasthaus Engel in Göttingen. Doch das klingt besser, als es ist. Die Zimmer sind immer mit mehreren Menschen belegt, es kommt auch hier zum „Lagerkoller“. So muss der 20-jährige niederländische Zwangsarbeiter Bernardus Perk, der als Rangierer bei der Reichsbahn eingesetzt wird, in der Göttinger Chirurgie behandelt werden: Er hat sich im Lager-Zimmer einen Ringkampf mit einem Kollegen geliefert, sich dabei den Kopf an einer Stuhlkante verletzt und sich ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen.

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Zwei junge französische Zivilarbeiter, die als Rangierer bei der Reichsbahn in Göttingen arbeiten mussten, flüchteten 1944 aus ihrem Lager im Gasthaus „Brauner Hirsch“ in der Göttinger Zindelstraße. Quelle: Stadtarchiv Göttingen, Akte Pol. Dir. 124/2
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Das ehemalige Hotel „Rappenhof“ in Hedemünden (Mai 2024). Hier waren französische Zivilarbeiter untergebracht, die für die Bahnmeisterei II Hann. Münden arbeiten mussten. Foto: Günther Siedbürger, 2024

Die Ungewissheit, in der sich die zwangsweise im Feindesland arbeitenden, oft vielfach diskriminierten Menschen befinden, führt zu einer enormen psychischen Belastung. Unabhängig von der Art der Unterkunft äußert sie sich in einzelnen Konflikten genauso wie in manifesten psychischen Erkrankungen und einer erhöhten Anfälligkeit auch für körperliche Krankheiten.