April 2025 | Aus der Recherche
„Wir waren so zufrieden – wir wussten, dass der Krieg vorbei ist!“
Am 8. April 1945 befreien US-Truppen das Dorf Ebergötzen vom Nationalsozialismus. Eine von mehreren Tausend Zwangsarbeiter*innen in Südniedersachsen, die an diesem Tag ihre Freiheit wiedererlangen, ist die 19-jährige Bronisława Haluch aus Polen. Jahrzehnte später erzählt sie von diesem bewegenden Moment – eindrücklich, lebendig und mit einem strahlenden Lächeln.
Ende März 1945: In Ebergötzen ist immer häufiger Gefechtslärm zu hören – die amerikanischen Truppen nähern sich. Am 7. April 1945 erobert die 69. US-Infanteriedivision Hannoversch Münden, gegen erbitterten Widerstand. Noch am selben Tag überschreiten die Soldaten die Weser und rücken über Dransfeld und Jühnde auf Göttingen vor. Seit dem Mittag des 8. April ist die Stadt Göttingen vom Nationalsozialismus befreit. Die US-Truppen marschieren weiter in die Kleinstädte und Dörfer des Landkreises. Auch nach Ebergötzen kommen sie. Hier und in der Zuckerfabrik Obernjesa hat Bronisława Haluch seit dem 7. Oktober 1942 Zwangsarbeit leisten müssen, zuletzt in der Bäckerei Arnold.

Die US-Armee überquert am 7. April 1945 die Weser. Quelle: Kreisarchiv Göttingen
2010 erinnert sie sich an den Tag ihrer Befreiung:
„Ich erinnere mich, dass an jenem besonderen Morgen jemand sagte, dass die amerikanische Armee in Waake ist – sie kommt nach Ebergötzen. Einige Leute standen zusammen draußen in Gruppen. Einige Männer hatten ihre SA-Uniformen angezogen, und sie stritten. Ich hörte, wie ein Mann sagte: ‚Wir werden kämpfen!‘ Und ein anderer sagte: ‚Seid doch nicht blöd! Womit wollt ihr denn kämpfen? Besser nehmt ihr ein weißes Laken und hängt es raus. Geht und hängt es irgendwo am Dorfeingang auf, denn sonst beschießen sie das Dorf vielleicht und unnötigerweise.‘ Nach einer Weile beschlossen sie zu gehen, jemand ging und befestigte das Stück weißen Lakens an einem Stock.
Zuerst kamen die Panzer. Einige der Soldaten waren schwarz – wir haben nie vorher Schwarze gesehen – und so wussten wir, dass es Amerikaner waren. Wir waren so zufrieden – wir wussten, dass der Krieg vorbei ist!“
Bronisława hat schon lange nicht mehr an den deutschen „Endsieg“ geglaubt, von dem in der NS-Propaganda die Rede war. An freien Sonntagnachmittagen trifft sie sich regelmäßig mit ihrem späteren Ehemann Wacław Burek. Wacław lernt schnell Deutsch, liest heimlich die Zeitung seines Bauern und hört, wenn dieser abwesend ist, BBC-Berichte über den Kriegsverlauf – was streng verboten und damit sehr gefährlich ist. Er gibt die Informationen an seine polnischen Freund*innen weiter. So verschaffen sie sich ein eigenes Bild vom Kriegsverlauf und vom Wahrheitsgehalt der deutschen Propaganda.
„Das war die Hauptsache! Die Freiheit zu erlangen!“
Noch Jahrzehnte später ist das Glück spürbar, das Bronisława bei ihrer Befreiung gespürt hat. Als sie davon erzählt, leuchtet ihr Gesicht vor Freude:
„Wir holten ein paar Blumen aus dem Garten, um sie auf die Panzer zu werfen, und sie warfen Kaugummi und Schokolade zurück. Und, oh, alle von uns waren so erfreut zu wissen, dass wir jetzt frei sind. Das war die Hauptsache! Die Freiheit zu erlangen! Das waren die Gefühle und das Glück. Der Krieg ist vorbei! Nicht nur für uns, sondern auch für Polen und für unsere Familien, denn wir wussten, wenn es hier vorbei ist, ist es auch dort vorbei.“
Hinter den Panzern fährt ein Lastwagen mit amerikanischen Soldaten. Er hält direkt vor dem Haus des Bäckers, für den Bronisława arbeiten musste. Sie beschreibt die Szene:
„Die kleine Bäckerstochter Lydia klammerte sich an mich, als amerikanische Soldaten – einige konnten Polnisch sprechen, wenn auch nur gebrochen – mich fragten, ob ich hier gut behandelt worden sei. Da sagte ich: ‚Ja.‘ Ein Soldat betrachtete die kleine Lydia und gab ihr ein Stück Schokolade. Sie war so erfreut, ich konnte sehen, dass ihre Augen lächelten.“
Bronisława Haluch, Polen, 1927 | Bronisława Burek, Osterode, 1947 | Bronisława Burek, Göttingen, 2015
Die Angst der Deutschen
„Als die Soldaten einmarschierten, waren die Deutschen im Dorf sehr still, das sage ich euch“, berichtet Bronisława mit einem Kichern. Im Inneren des Hauses herrscht jedoch Unruhe: „Die Großmutter war im Hinterzimmer, die Mutter des Bäckers, und weinte sich die Augen aus. Sie sagte: ‚Oh, heute ist Hitlers Geburtstag, nicht wahr? Oh mein Gott, Hitler hat Geburtstag und der Amerikaner ist hier.‘ Da sagte der Bäcker zu ihr: ‚Halt deine Schnauze! Wenn du zu viel Krach machst, kommt der Soldat und bringt dich um! Geh nach vorne und setz dich still dort hin!‘“
Wie andernorts erlauben die US-Soldaten den befreiten Zwangsarbeiter*innen auch hier drei Tage der Vergeltung. Bronisława erzählt:
„Die Soldaten sagten, wenn uns irgendjemand misshandelt hat, könnten wir uns rächen. Aber nur für drei Tage. Danach nicht mehr. Während des Krieges haben viele gesagt: ‚Oh, wenn der Krieg vorbei ist, dann werde ich den und den fertigmachen.‘ Aber jetzt rührte keiner einen Finger. Nach ein paar Tagen ist Behrens [Besitzer eines größeren landwirtschaftlichen Hofes in Ebergötzen] fortgelaufen. Er hatte als einziger Angst, weil die Jungs [gemeint sind die polnischen Zwangsarbeiter] bereit für ihn waren. Er hat sie nicht gut behandelt. Aber sie haben ihn nicht gekriegt. Jeden Tag wurde das Leben ein bisschen normaler, und alle mussten auch ihre eigene Arbeit selbst machen. Sie fingen dann an, das Leben zu reorganisieren.“
Auch Bronisława tut das. Noch bis Juni 1945 backt sie, liefert Brot aus und verkauft es auf dem Wochenmarkt für die Bäckerei Arnold – freiwillig und gegen Bezahlung.
Familiengründung im Lager und ein neues Leben in England
Im Juni 1945 fordern die Alliierten die ehemaligen Zwangsarbeiter*innen auf, in ein DP-Camp zu gehen. Bronisława zieht mit polnischen Freund*innen, darunter auch Wacław Burek, in die Göttinger Zietenkaserne – inzwischen ein Lager für 'Displaced Persons' (DPs). So werden nach dem Zweiten Weltkrieg Menschen genannt, die durch Krieg, Verfolgung oder Zwangsarbeit ihre Heimat verloren haben und ohne Hilfe der Alliierten nicht zurückkehren oder sich anderswo niederlassen können. Dazu zählen unter anderem Zwangsarbeiter*innen, ehemalige KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Geflüchtete.
Bis November 1945 leben sie dort, dann werden sie in das DP-Camp Bergen-Belsen verlegt. Dort heiraten Bronisława Haluch und Wacław Burek im April 1946. Im November 1946 müssen Bronisława und Wacław ins DP-Lager Herzberg am Harz umziehen, wo ihre Tochter Sofia geboren wird. Als Sofia ein Jahr alt ist, folgt der nächste Ortswechsel: nach Osterode am Harz, wo im März 1949 ihre zweite Tochter Maria zur Welt kommt. In dieser Zeit wandern viele DPs aus. Der erste Antrag der Familie Burek auf Ausreise in die USA wird jedoch abgelehnt, wegen vermeintlicher gesundheitlicher Probleme Wacławs. Eine Lungenentzündung, die er als Zwangsarbeiter im Forst erlitt, hat Spuren hinterlassen.
Es folgt ein Umzug nach Braunschweig, wo die Bureks nacheinander in drei verschiedenen Kasernen leben müssen. 1958 wird ihr Sohn Henryk geboren. Zwei Jahre später ergibt sich erneut eine Gelegenheit zur Auswanderung – diesmal gelingt sie. Im September 1960 emigriert die Familie nach England und beginnt ein neues Leben in Orpington, Kent. Im Oktober 1964 erblickt hier ihr viertes Kind, die Tochter Caroline, das Licht der Welt.

Kommunion von Maria Burek und Taufe von Henryk Burek am 1. Juni 1958 in Braunschweig.
Von links nach rechts am Tisch sitzend: Wacław Burek, Maria Burek, Wiktoria Delimat (Taufpatin), Czesław Burca (Taufpate) mit dem Patenkind Henryk, Bronisława Burek, Katarzyna Dreksler. Hinter Bronisława Burek steht ihre Tochter Sofia mit großem Lächeln. Quelle: Wiktoria Delimat
Wacław Burek stirbt im Mai 1990. Bronisława folgt ihm am 30. September 2022. Sie wird 96 Jahre alt.



Seiten 1, 3 und 4 des Fragebogens „Application for Assistance“ der International Refugee Organization (IRO), ausgefüllt von der Familie Burek zur Beantragung der Ausreise in die USA. Dieses Formular war das zentrale Dokument, das sogenannte „Displaced Persons“ ausfüllen mussten, um Unterstützung durch die IRO zu erhalten. Seite 4 trägt den Vermerk „CANCELLED“ – der Antrag wurde somit abgelehnt. Quelle: ITS, Signatur
32110000 041.426
Weiteres zu Bronisława Burek:
Zur Befreiung |
Blogbeitrag April 2022: „Das P flog weg!“ – Bronisława Haluch wird befreit!
Weitere Themen |
Blogbeitrag November 2022: In memoriam
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