BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Oktober 2024 | Neuigkeiten Teaserbild

„Wir sollten versuchen, so viel wie möglich darüber zu sprechen …“

Beeindruckend, spannend, ergreifend, lehrreich – und ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen: So bewerteten Schüler*innen aus Westerstede in Niedersachsen und Wrocław in Polen, was sie in der Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit“ erlebt haben. Für zwei Tage kamen die Jugendlichen Ende September 2024 nach Göttingen, um sich im Rahmen eines Austauschs gemeinsam mit dem Kriegsverbrechen der NS-Zwangsarbeit auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt ihrer intensiven und engagierten Diskussionen standen die Lebensgeschichten von polnischen Zwangsarbeiter*innen und das oft vergebliche Ringen um Gerechtigkeit nach der Befreiung.

Es ging hoch her in den Ausstellungsräumen. 47 Schüler*innen und vier Lehrkräfte von der „Europaschule Gymnasium Westerstede“ und dem „Liceum Ogólnokształcące nr XIII im. Aleksandra Fredry“ in Wrocław tauchten tief ein in die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Zwangsarbeit, sie recherchierten und diskutierten, sammelten Wissen, gaben sich Denkanstöße. Hier erzählen sie von dem zweitägigen Programm, das wir für sie organisiert haben.

Mit der Erkundungstour „Einsatzorte der Zwangsarbeit“ begann die Auseinandersetzung in der Ausstellung. Ein*e polnische*r Schüler*in schreibt dazu:

„In unserem Gruppenprojekt haben wir uns mit dem Thema Zwangsarbeit beschäftigt. Dabei war es besonders gut, dass keine historischen Grundkenntnisse erforderlich waren, sodass jeder gleich einsteigen konnte.“

Lara, Ola, Piotr und Tammo berichten:

„Die Aufgaben in der Ausstellung zu erfüllen, wirkt für jugendliche Gruppen, wie wir es sind, erstmal ein wenig langweilig. Als wir dann jedoch so langsam ins Starten kamen, waren immer mehr Schülerinnen und Schüler begeistert und haben produktiv mitgearbeitet. Es war unsere Aufgabe, in verschiedenen Gruppen die Arbeit und das schwierige Leben der fremdstaatlichen Zwangsarbeiter zu erarbeiten und vorzustellen. Eine dieser Stationen, die uns allen sehr nahe ging, war die zentrale Rolle der Bahn während des Zweiten Weltkrieges. Die Zwangsarbeiter wurden über mehrere Tage in dunklen und engen Waggons, häufig nur mit ein wenig Stroh ausgekleidet und mit fast keinem Essen ausgestattet, durch Europa nach Deutschland deportiert, um dort zu arbeiten. Das hat uns allen nochmal bewusst gemacht, wie hart das Leben der Menschen zu der damaligen Zeit war und wie hoch die Wichtigkeit, sich über dieses Thema zu informieren. Denn so etwas Schreckliches darf nicht wieder passieren. Somit bedanken wir uns nochmal für dieses spannende und beeindruckende Programm sowie die Mühe, die die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für uns aufgebracht haben, damit wir etwas von diesem Tag mit nach Hause nehmen können.“

Neben der Deutschen Reichsbahn wurden auch andere Einsatzbereiche für Zwangsarbeiter*innen thematisiert:

„Unsere Station hat die Zwangsarbeit in der Industrie beschrieben. Wie diese Zwangsarbeit dann unter der Tyrannei funktioniert hat und was die Menschen da gemacht haben und wie sie von grausamen Menschen behandelt wurden.“

Die Schüler*innen aus Polen nutzten die polnische Übersetzung auf der Ausstellungswebsite als Hilfe für ihre Arbeit:

„Die Ausstellung präsentiert alle Informationen und das Internet ergänzt sie. Jeder von uns lernte viel über den Teil der Ausstellung, den er oder sie vorstellte. Ohne Ausstellungsbetreuer musste man sich das selbst aneignen.“

Am zweiten Tag folgte der Workshop „Suche nach Gerechtigkeit – Eine Rekonstruktion. NS-Zwangsarbeit vor Gericht: Wie sich Täter aus Südniedersachsen in Polen verantworten mussten.“ In dem Workshop geht es um ein Strafverfahren gegen zwei leitende Angestellte der Sollinger Hütte in der direkten Nachkriegszeit, das für einen der beiden Angeklagten mit einer langen Haftstrafe und für den anderen sogar mit der Todesstrafe endete (mehr dazu im Blogbeitrag Juni 2024 „Ein Sowjetstern in Uslar und der Tod eines Zwangsarbeiters“).

 AG0In diesen Akten finden sich alle Dokumente, die von den Schüler*innen für den Workshop „Suche nach Gerechtigkeit – Eine Rekonstruktion. NS-Zwangsarbeit vor Gericht: Wie sich Täter aus Südniedersachsen in Polen verantworten mussten“ benötigt werden. Foto: Arndt Kohlmann (9/2024)

Anhand von Reproduktionen der historischen Dokumente rekonstruierten die Schüler*innen selbstständig das Verfahren. Sie diskutierten die Misshandlung polnischer Zwangsarbeiter und sowjetischer Kriegsgefangener durch den Betriebsleiter und einen Vorarbeiter des Uslarer Betriebs sowie die Bestrafung der beiden Männer. Das im Rahmen eines polnisch-deutschen Austauschs zu tun, war für die Jugendlichen, so Zoe, Jule, Iwona und Natalia, eine besondere Erfahrung:

„Während unseres einwöchigen Austausches mit einer polnischen Partnerschule besuchten wir gemeinsam die Dauerausstellung ‚Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939 – 1945“ in Göttingen. Dabei wurde uns mit Hilfe von bewegenden historischen Bildern und ergreifenden persönlichen Lebensgeschichten einzelner Zwangsarbeiter*innen der Zusammenhang zwischen Zwangsarbeit und NS-Ideologie aufgezeigt sowie die damalig vorherrschenden, miserablen Lebens- beziehungsweise Arbeitsbedingungen dargelegt.

Insbesondere das Betrachten der Vergangenheit in Gemeinschaft der polnischen Schüler ergriff uns umso mehr.

Der Aufenthalt in der Göttinger Ausstellung verdeutlichte uns das unvorstellbare Ausmaß des alltäglich unerträglichen Leids und die willkürliche Ausbeutung von Zwangsarbeitern im 20. Jahrhundert, was wir wiederum durch die eigenständige Arbeit mit den Materialien und den nachfolgenden Diskussionen innerhalb unserer Gruppe nochmals verinnerlichten.“

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Bilder 1 & 2: Die Schüler*innen lesen die historischen Dokumente und besprechen gemeinsam die Zeugenaussagen sowie die Zeugnisse über den Charakter der Angeklagten.
Bilder 3 & 4: Die Schüler*innen rekonstruieren den Ablauf der Gerichtshandlung.
Fotos: Lisa M. Grow (9/2024)

Eine besonders angeregte Diskussion entspann sich am Ende des Workshops um die Berechtigung der Todesstrafe. Das Wissen um das Verbrechen der Zwangsarbeit und die Grausamkeiten der Täter machte einfache Antworten unmöglich. Stattdessen war viel Nachdenkliches zu hören. Natalias Gedanken dazu:

„Ich frage mich, ob die Todesstrafe wirklich ein gutes Mittel ist, um Menschen zu bestrafen, die für Zwangsarbeit in Deutschland verantwortlich sind (oder Menschen, die andere schreckliche Verbrechen begangen haben). Trotz langer Überlegung bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, was die richtige Lösung ist. Dadurch bin ich umso mehr der Überzeugung, dass nichts auf dieser Welt schwarz-weiß ist und dass nicht jede Frage mit einem einfachen Ja oder Nein beantwortet werden kann.“

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Schüler*innen diskutieren das Gerichtsurteil und die ethischen Aspekte der Bestrafung. Fotoquelle: Lisa M. Grow (9/2024)

Dass es wichtig ist, sich mit dem Thema der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus zu befassen, darüber herrschte Einigkeit bei den Schüler*innen. Aber, erklärte Iwona, es sei auch belastend:

„Das Thema Zwangsarbeit ist den meisten Menschen oft kaum bekannt. Umso mehr sollten wir das Wissen über das Thema vertiefen und verbreiten. Als ich von dem hörte, was passiert ist, fühlte ich mich bestürzt und hilflos, weil andere von den Behörden unmenschlich behandelt wurden. Menschenrechte wurden missachtet und Sicherheitsvorschriften nicht beachtet.“

Die Schülerin schließt mit einem eindringlichen Appell:

„Wir sollten dieses Thema nicht ignorieren und versuchen, so viel wie möglich darüber zu sprechen, denn Geschichte kann sich wiederholen. Wir sollten wissen, dass wir es sind, die die Zukunft beeinflussen und gestalten.“

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Schüler*innen und Lehrkräfte von der „Europaschule Gymnasium Westerstede“ und dem „Liceum Ogólnokształcące nr XIII im. Aleksandra Fredry“ in Wrocław. Foto: Lisa M. Grow (9/2024)

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Die Schüler*innen haben nach dem Ausstellungbesuch ein Video über ihre Erfahrungen aufgenommen, in dem sie über den Besuch reflektieren. Ein Lehrer aus Westerstede betonte:

„Du musst dir das vorstellen, das haben polnische und deutsche Schüler*innen zusammen gemacht. Dafür macht man den Job.“

Wir bedanken uns bei den Schüler*innen und Lehrer*innen der Schulen aus Wrocław und Westerstede für ihr großes Interesse, ihre engagierte Teilnahme – und für die tollen Rückmeldungen!

Der Workshop ist entstanden in unserem Kooperationsprojekt „Rekonstruktion juristischer Verfahren über Zwangsarbeit in Südniedersachsen und Polen“ als Teil des Projekts „Schicksale aus Polen 1939-1945. Erinnern lokal & digital“ des Deutschen Polen-Instituts.