BLOG Aufgespürt! Fundstücke, Recherchen, Neuigkeiten zu europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945

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"Aufgespürt" untersucht ab Januar 2022 jeden Monat einen aktuellen Aspekt zum Thema Zwangsarbeit

Juni 2024 | Neues aus der Recherche Teaserbild

Ein Sowjetstern in Uslar und der Tod eines Zwangsarbeiters

Im Winter 1943 wird die 6. Armee der nationalsozialistischen Wehrmacht vor Stalingrad vernichtend geschlagen. Was heute als Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs gilt, lässt damals bei den Insassen von Konzentrationslagern ebenso wie bei vielen Zwangsarbeiter*innen die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges wachsen. Überall im Reichsgebiet tauchen Sowjetsterne und ähnliche Symbole auf. Zwangsarbeiter*innen wollen sich damit gegenseitig Mut zusprechen und die deutsche Bevölkerung demoralisieren. In der Sollinger Hütte in Uslar zeichnet jemand mit dem Finger einen fünfzackigen Sowjetstern auf eine staubige Wand, dazu die Zahl 1943. Die Folgen sind brutal.

Die Sollinger Hütte in Uslar ist einer von Tausenden Betrieben in Deutschland, die im Zweiten Weltkrieg auf die Produktion von Rüstungsgütern umgestellt werden. Von 1940 an sind hier Menschen aus Polen, Frankreich und der Sowjetunion gezwungen, Waffen für den Krieg gegen ihre Heimatländer herzustellen. Ein Lager für rund 50 sowjetische Kriegsgefangene sowie mehrere sowjetische und polnische zivile Zwangsarbeiter*innen befindet sich seit 1942 direkt auf dem Fabrikgelände. Die Zwangsarbeiter*innen müssen schwerste Arbeiten verrichten, erhalten dabei aber nur sehr wenig und sehr schlechtes Essen. Schon bei kleinen Fehlern werden sie willkürlich und nicht selten schwer bestraft. Vor britischen Ermittlungsbehörden sagt dazu 1946 ein deutscher Elektroschweißer:

„Öfters war ich Zeuge, wie Karl Piel den polnischen Arbeitern Ohrfeigen verteilt hat. Der Grund war meistens, dass er mit der Arbeit unzufrieden war, was bei Laien doch vorkommen musste. Von meinen polnischen Kameraden habe ich öfters gehört, dass Piel sie mehrmals mit der Hand oder einem Gummiknüppel geschlagen hat.“

Piel war der Betriebsleiter. Ein deutscher Kraftfahrer beschreibt ihn in seiner Aussage 1946 mit diesen Worten:

„Meiner Meinung nach war Piel ein sehr strenger Mensch, der stets die Arbeiter zur ständigen und schnellen Arbeit antrieb und deswegen kam es öfters zu Streitigkeiten.“

Wer nicht spurt, muss mit Gewalt rechnen. Immer wieder beschweren sich Zwangsarbeiter*innen wegen des zu spärlichen, oftmals gar verfaulten Essens bei der Betriebsleitung. Besonders engagiert tritt der Dolmetscher Jan Ciężak auf. Die Konsequenzen schildert der ehemalige polnische Zwangsarbeiter Władysław Chaberski 1946 in einer Zeugenvernehmung so:

„Da aber Ciężak dem Piel ein Dorn im Auge war, weil er in vielen Fällen für die polnischen Arbeiter eingetreten war, ließ Piel an ihm seine Wut ab. Er schlug ihn damals mit einem Gummiknüppel so fest auf den Hinterkopf, dass Ciężak vor Schmerzen schrie: ‚Polen, rettet mich, sonst bringt er mich um!‘“

In dieser Atmosphäre löst der in den Staub gezeichnete Sowjetstern bei Betriebsleiter Piel eine wütende Reaktion aus. Der ehemalige Zwangsarbeiter Stanisław Zduniak berichtet am 14. November 1947 vor den polnischen Ermittlungsbehörden:

„Als Piel das erfuhr, ließ er direkt die Gestapo kommen. Und in der Zwischenzeit fing er selbst mit Ermittlungen an, um den Täter ausfindig zu machen. Er ließ der Reihe nach jeweils fünf Polen rufen, und als diese niemanden verraten wollten, wurden sie geschlagen. Ich wurde als zweiter gerufen und auch von Piel und [dem Vorarbeiter] Schwarz geschlagen. Den Namen des Täters verriet erst der fünfte aus der Reihe, einer, der aus Kielce stammte, und das erst, nachdem ihn Piel geschlagen hatte und ihn an der Gurgel packte und ihn zu würgen begann. Aus Angst um sein Leben verriet er den Namen Wysogórski. Daraufhin begaben sich Piel und Schwarz zusammen mit den Gestapo-Leuten, die mittlerweile angekommen waren, in die Baracken, in denen die Arbeiter von der Nachtschicht schliefen, unter ihnen auch der Täter. Piel weckte sie alle, indem er sie mit einem Stock schlug, und anschließend fragte er nach dem Urheber der Zeichnung.“

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Nachdem Stanisław Zduniak 1946 erstmals bei den britischen Besatzungsbehörden eine Aussage zur Sollinger Hütte machen musste, wird er in Kalisch am 14. November 1947 noch einmal vom Untersuchungsrichter vernommen. Die erste Vernehmung hat die Besatzungsbehörden dazu veranlasst, dem polnischen Auslieferungsbegehren stattzugeben und Karl Piel an Polen auszuliefern. Mit der neuerlichen Vernehmung soll nun die Hauptverhandlung vorbereitet werden. Hier zu sehen ist nur ein Teil der Aussage, die sich auf Antoni Wysogórski bezieht.
Quelle: Protokoll der Zeugenaussage von Stanisław Zduniak am 14.11.1947 (S. 4), Archiv Instytut Pamięci Narodowej, Warschau

Ob Karl Piel tatsächlich die Gestapo gerufen hat oder diese selbstständig tätig wird, lässt sich nicht mehr klären – auch im Gerichtsprozess können die Zeugen das nicht mit Bestimmtheit sagen. Für Antoni Wysogórski, den mutmaßlichen des Sterns, aber hat der Einsatz der Gestapo fatale Folgen. Und auch Jan Ciężak, an dem sich Piel bei dieser Gelegenheit erneut rächen will, wird hart bestraft. Stanisław Zduniak ergänzt in seiner Aussage:

„Antoni Wysogórski aus Łódź bekannte sich zu der Tat. Piel, Schwarz und die Gestapo schlugen alle [Arbeiter] in der Baracke zusammen, und ließen Wysogórski und Ciężak, auf den Piel die Gestapo aufmerksam machte, sich anziehen. Danach nahm sie die Gestapo mit. Sie wurden in das Lager in Liebenau [Arbeitserziehungslager] gebracht, von wo Ciężak nach 58 Tagen zurückkam. Wysogórski wurde weiter nach Dachau geschickt.“

Am 1. Juli 1943 stirbt Antoni Wysogórski (Häftlingsnummer 19087) im Außenlager Wittenberge des KZ Neuengamme. Der am 10. April 1906 geborene Maler aus Łódź wird gerade einmal 37 Jahre alt.

Karteikarte_Todesdaten_Antoni Wysogórski_kleinKarteikarte mit den Todesdaten von Antoni Wysogórski. Nach der Befreiung hat das Hamburger Büro des Suchdienstes der britischen Besatzungsbehörden eine Kartei der im KZ Neuengamme und seinen Außenlagern ermordeten Menschen erstellt.
Quelle: ITS 3661753

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird Karl Piel in Polen wegen der Behandlung der Zwangsarbeiter*innen in der Sollinger Hütte angeklagt. Am Ende des Prozesses hält es das Warschauer Bezirksgericht für erwiesen, dass er einen Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion zu Tode gequält hat, und verhängt die Todesstrafe. Für die Verschleppung Antoni Wysogórskis ins Konzentrationslager wird Piel nicht verurteilt, weil ihm nicht nachgewiesen werden kann, dass er die Gestapo gerufen hat. Sein ebenfalls angeklagter Vorarbeiter August Schwarz muss für mehrere Jahre ins Gefängnis, weil er die Zwangsarbeiter*innen nach Überzeugung des Gerichts regelmäßig geschlagen hat.

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Am 20. Februar 1946 nehmen die britischen Besatzungsbehörden Karl Piel, den Betriebsleiter der Sollinger Hütte, und seinen Vorarbeiter August Schwarz fest, um sie nach Polen auszuliefern. Dort soll der Prozess gegen beide stattfinden. Am 24. September 1948 werden sie schließlich vom Bezirksgericht Warschau verurteilt.
Quelle: War Criminal Arrest Report, (S. 1), Archiv Instytut Pamięci Narodowej, Warschau

Die Details zu diesem Strafprozess untersuchen wir in unserem Kooperationsprojekt „Rekonstruktion juristischer Verfahren über Zwangsarbeit in Südniedersachsen und Polen“ als Teil des Projekts „Schicksale aus Polen 1939-1945. Erinnern lokal & digital“ des Deutschen Polen-Instituts.

Auftaktveranstaltung im Juni zum Thema Nachkriegsjustiz – mehr hier

Donnerstag, 6. Juni 2024 | 18 Uhr
„Irgendwann kam da mal was“ – Entschädigungen für polnische Zwangsarbeiter*innen
mit David Rojkowski, Soziologe, Kurator und Ausstellungspartner, Flensburg