Mai 2024 | Erinnern und Gedenken
„Und die alten Leute, die fielen um!“ | Theo Gielens Verschleppung
Am 10. Mai 1940 überfällt die deutsche Wehrmacht die Niederlande. Während der Kriegsjahre deportieren die Deutschen 550.000 Menschen aus dem Nachbarland, 30.000 von ihnen finden in der Folge durch Zwangsarbeit den Tod. Der damals 21-jährige Theo Gielen versteckt sich zunächst, dann wird auch er aufgegriffen.
Im September 1944 werden die niederländischen Regionen Nord- und Mittel-Limburg westlich der Maas zum Frontgebiet. Die deutsche Besatzungsmacht gibt es zum Plündern frei, arbeitsfähige Männer werden verhaftet – und 3.000 Menschen nach der Limburger Kirchenrazzia im Herbst 1944 zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich deportiert. Einer der Verschleppten ist Theo Gielen.
In dem Gebiet westlich der Maas wurden im Oktober und November 1944 etwa 3.000 Personen verhaftet und von dort über Venlo zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich deportiert.
Quelle: Stichting Deportatie Oktober 1944 Noord-en Midden Limburg/ Alex Van Heugten
Versteck und Gefangennahme
Vor seiner Gefangennahme führt Theo ein geregeltes Leben, geprägt von Ausbildung und Arbeit. Am 21. Juni 1923 in Egchel als ältestes von sechs Geschwistern geboren, hilft Theo schon früh in der Gemüsegärtnerei seines Vaters. Theos Tätigkeit im Gärtnereibetrieb beeinflusst seinen beruflichen Werdegang: 1937-1941 besucht er die Landbauschule in Panningen, 1941-1944 die Gärtnerschule.
Um ihren Arbeitskräftebedarf zu decken, deportieren die Deutschen mehr und mehr Menschen aus den Niederlanden. Theo versucht der Verschleppung zu entgehen, versteckt sich:
„Da bin ich – länger als ein halbes Jahr – untergetaucht. Im Stroh oder anderswo. Ich darf mich nicht sehen lassen. Und dann sagte ich zu meinem Vater: ‚Ich bin es müde. Ich lass‘ mich nun sehen.‘ Dann bin ich in die Kirche gegangen am Sonntagmorgen. Und die deutschen Soldaten hielten mich fest, wo gespielt wurde, da war ein Spielplatz.“
Die Soldaten treiben immer mehr Männer zusammen:
„Nachher waren wir mit 75 da. Mit 75 waren wir da auf dem Spielplatz und mussten zu Fuß nach Venlo gehen.“
Über Wuppertal nach Herzberg
Von Venlo aus werden die Niederländer – in einem Viehwaggon – weiter nach Wuppertal in das Lager „Am Giebel“ transportiert. Die deutschen Soldaten sind betrunken, schreien die Männer an. Theo erinnert sich an die schief sitzenden Mützen seiner Bewacher. In Wuppertal sind Theo und die anderen Verschleppten schrecklichen Bedingungen ausgesetzt:
„Dann kamen wir in einen steinernen Stall, mit so kleinen Fenstern drin. Und die alten Leute, die fielen um. Die kriegten keine Luft. Ab und zu durfte man dann für fünf Minuten da raus. Zum Pinkeln, und dann musst du wieder rein. Wir sind ein paar Tage da gewesen.“
Die nächste Station des Leidenswegs ist das Lager Haverlahwiese in Salzgitter. Hier übersetzt einer der Niederländer – Theo nennt ihn den „Vormann“ – die Befehle der Deutschen ins Niederländische. Nach einer Woche des Wartens verspricht ein Mann
den Gefangenen Arbeit in der Landwirtschaft:
„Da kommt ein kleines dickes Männeken angelaufen, und der sagt, er muss hundert Bauern haben. Ich sage: ‚Hundert Bauern?‘ Unser Vormann: ‚Bei einem Bauern hast du immer was zu essen.‘ Und weißt du, wohin wir kamen? In eine chemische Fabrik. Der wollte Leute kriegen. Der kriegte auch hundert, die da mitgegangen sind. Zu Fuß nach Herzberg.“
„Sjauwerk“ in Rhumspringe
Die Schickert-Werke Rhumspringe zum Zeitpunkt der Befreiung 1945.
Quelle:H.J. van Melick, Neer
Von Herzberg aus müssen die Niederländer ins Eichsfeld marschieren. Auf dem Weg nächtigen sie in Bahnhöfen. Schließlich erreichen sie die Baustelle des entstehenden Otto-Schickert-Werks in Rhumspringe, beziehen ein Barackenlager im benachbarten Hilkerode. Theo muss im Stammbetrieb der Schickert-Werke in Bad Lauterberg und auf der Baustelle in Rhumspringe schuften. Er nennt es „Sjauwerk“: Schlepparbeiten. Die Arbeit ist gefährlich, die hygienischen Umstände erschreckend, das Essen mangelhaft. In ihrer Not arbeiten die Niederländer an den Wochenenden gegen eine Mahlzeit für Eichsfelder Familien. Es entstehen freundschaftliche Kontakte, die nach Kriegsende bestehen bleiben:
„1960 bin ich das erste Mal zurückgegangen. Ich hielt an bei Treeschen [Therese] vor der Tür. Die alte Oma war draußen am Fegen, die dreht sich um und sieht mich, kommt angerannt und fliegt in meine Arme, als ob ich eines ihrer eigenen Kinder bin. Die hatte mich auch viele Jahre nicht mehr gesehen. Das ist doch stark, finde ich.“
Als „Westarbeiter“ wird Theo besser behandelt als die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Italien, der Sowjetunion und Polen. Offiziell 51 Italiener und 23 Zwangsarbeiter aus Osteuropa sterben in Rhumspringe. Theo ist sich dessen bewusst, deutet im Film-Interview an, dass es den Verschleppten aus anderen Ländern schlechter erging als ihm selbst. Ausschnitte aus dem Interview könnt ihr in unserer Ausstellung
„Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ sehen und hören.
Standbild aus dem Interview in der Ausstellung mit Theo Gielen vom 16.Oktober 2007
Zum Jahrestag des Einmarsches der Deutschen in die Niederlande, Belgien und Luxemburg am 10. Mai 1940 gedenken wir derer, die die Deportation nach Nazi-Deutschland nicht überlebten. Und natürlich auch derer, die wie Theo Gielen lebend in ihre Heimat zurückkehren konnten.