November 2024 | Fundstücke
Mirosław Kukłinskis Erfahrungen als Kind einer Zwangsarbeiterin
Über 13 Millionen Zwangsarbeitende schuften während des Zweiten Weltkriegs für das nationalsozialistische Regime, mehr als 50.000 von ihnen in Südniedersachsen. Oft deportieren die Nationalsozialisten ganze Familien nach Deutschland, häufig auch Mütter mit ihren Kindern. Mirosław Kukłinski wird als Dreijähriger verschleppt. Rechte hat er keine.
Heute sind Kinderrechte in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen festgeschrieben. Fast alle UN-Mitgliedsstaaten sind der am 20. November 1989 verabschiedeten Konvention beigetreten, Deutschland allerdings erst nach langem Widerstand. An den damit festgelegten Schutzstandards müssen sich Gesetze und Rechtsprechung weltweit messen lassen. Es geht um das Recht auf Überleben und Entwicklung, auf Nichtdiskriminierung, auf die Wahrung der Interessen der Kinder, auf ihre Beteiligung.
Die Kindheit von Mirosław Kukłinski, der als Sohn einer polnischen Zwangsarbeiterin in Bilshausen und Duderstadt lebte, hätte von diesen Standards nicht weiter entfernt sein können.
Rassismus, Ausbeutung, Hass
Mirosław Kukłinski wird 1941 in Warschau geboren. Am 6. August 1944, nach Beginn des Warschauer Aufstands, treiben die deutschen Besatzer*innen Mirosławs Familie in die Warschauer St.-Wojciech-Kirche. Es folgen die Deportation in das Durchgangslager Pruszków und dann ins KZ Sachsenhausen, wo Mirosławs Vater als Häftling bleibt. Mirosław und seine Mutter dagegen werden ins KZ Buchenwald und von dort zur Zwangsarbeit nach Bilshausen gebracht. Mirosław berichtet:
„In Buchenwald waren wir nicht in Baracken untergebracht, sondern wir schliefen auf einer Wiese. Auf diesem Feld war alles: Läuse, Flöhe, Exkremente. Da saßen wir.“
In Bilshausen, wo Mirosławs Mutter in der Ziegelei Jacobi arbeiten muss, ist es nicht besser:
„Die Unterbringung war katastrophal: eine Baracke. Das Wasser lief die Wände herunter. Bis heute habe ich Rheumatismus.“
Später werden Mutter und Sohn zur Arbeit in der Reißwollfabrik Hollenbach in Duderstadt eingesetzt:
„Wir kamen zu Frau Gisela Artmann nach Duderstadt zu Hollenbach. Sie haben uns wie Gefangene in einer alten Küche festgehalten. Ab und zu kam Frau Gisela und wechselte mit uns ein paar Worte, aber eine geregelte Aufsicht gab es nicht.“
In diesem Gebäude der ehemaligen Reißwollfabrik Hollenbach in Duderstadt musste Mirosław Kukłinskis Mutter Zwangsarbeit leisten. Bildquelle: Geschichtswerkstatt Duderstadt
Mirosław hat keine Möglichkeit, sich frei zu entwickeln, als Kind einer polnischen Zwangsarbeiterin erfährt er Gewalt und Diskriminierung – und wird selbst zur Zwangsarbeit herangezogen:
„Wir wurden bewacht, wir durften keinen Kontakt mit Deutschen auf der Straße haben und wir durften auch nicht auf die Straße gehen. In Duderstadt erlebten wir viel Hass. Meine Mutter erzählte, dass Kinder uns anspuckten und bewarfen, als uns die Bewacher durch die Straße trieben. Wir mussten für die Sauberkeit auf dem Hofe und in der Garage sorgen.“
Um zu überleben, isst er Maulwurffleisch, Suppe aus Brennnesseln und Gänsefuß. Etwas anderes wird ihm nicht angeboten.
Bildquelle: Geschichtswerkstatt Duderstadt
Mirosławs Erlebnisse im Eichsfeld widersprechen den Prinzipien, die die UN-Kinderrechtskonvention 1989 zum Maßstab erhebt: Schärfste Diskriminierung, Rechtlosigkeit, physische und psychische Gewalt prägten seinen Alltag. Tausenden Kindern von Zwangsarbeiterinnen ging es genauso. Ihr Wohlbefinden spielte für das NS-Regime keine Rolle:
„Diese Zeit unseres Lebens ist uns genommen“, sagt Mirosław.
Nach der Befreiung
Am 9. April 1945 befreien US-amerikanische Truppen Mirosław und seine Mutter. Mirosław besucht einen von den Alliierten eingerichteten Kindergarten, lebt im Displaced-Persons-Lager. 1946 kehren er und seine Mutter nach Warschau zurück, wo sie den Vater bzw. Ehemann wiedertreffen.
Zumindest eine erfreuliche Entwicklung hat ihren Ursprung in Duderstadt: Mirosław entdeckt nach der Befreiung seine Liebe zur englischen Sprache, sein Interesse an den USA und Großbritannien wird geweckt. In Warschau und New Hampshire (USA) studiert er Anglistik, arbeitet als Lehrer, später ist er im Außenhandel tätig.
Mirosław Kukłinski, etwa 4 oder 5 Jahre alt (1945/46).
Fotoquelle: Mirosław Kukłinski, Polen
In unserer Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ kommt Mirosław Kukłinski in einem filmischen Interview selbst zu Wort. Detailliert berichtet er von seinem Leben als Kind einer Zwangsarbeiterin in NS-Deutschland.
Mirosław Kukłinski während eines filmischen Interviews (2010)
Quelle: Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“