Juni 2025 | Fundstücke
Schon bei einer einzigen kleinen Bemerkung droht das Straflager
Ausländische Zwangsarbeiter*innen leben im Deutschland des Zweiten Weltkriegs in ständiger Gefahr für Leib und Leben. Permanente Überwachung, Bedrohung, Terror und harte Strafen bei abweichendem Verhalten gehören ohnehin zu den Kennzeichen der nationalsozialistischen Diktatur. Zwangsarbeiter*innen können sich selbst bei größter Vorsicht nicht immer vor harten Strafen schützen. Denn denunziert wird gerne und schnell.
Die deutsche „Volksgemeinschaft“ ist ebenso denunziationsfreudig wie das NS-Regime korrupt – und mit besonderer Vorliebe richtet sich das Misstrauen gegen die „Fremdvölkischen“. Deren Alltag wird durch ein Sonderstrafrecht für Menschen aus Polen und der Sowjetunion, das mit zahllosen schwer einzuhaltenden Beschränkungen aufwartet, massiv erschwert. Und die Polizei, insbesondere die Geheime Staatspolizei (Gestapo), fragt nicht lange …
Zwangsarbeiter*innen müssen also auch in den scheinbar harmlosesten Situationen hellwach und stets auf der Hut sein. So wie der Pole Władysław Stankowski, dem sein „Chef“ bei der Arbeit auf dem Kartoffelfeld bei Uschlag berichtet, man habe ihm angeboten, als „arischer Treuhänder“ einen Landwirtschaftsbetrieb in der Ukraine zu führen. (Was er nicht dazu sagt: Die von deutschen „Treuhändern“ geführten Höfe wurden zuvor den einheimischen Bauern geraubt.) Und dann fragt der Landwirt „seinen“ Zwangsarbeiter unvermittelt: „Walter, was meinst du denn? Ich traue dem Frieden nicht!“
Władysław Stankowski ist sich vollkommen sicher, dass Deutschland den Krieg verlieren wird. Daher müsste er dem Uschläger Bauern eigentlich raten, das Angebot abzulehnen. Er ist aber geistesgegenwärtig genug, stattdessen nur vage zu antworten: „Chef, ich weiß nicht …“ Denn die Aussage, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, können sich nicht einmal Deutsche leisten, ohne das Risiko einzugehen, denunziert zu werden.
Władysław Stankowski als Zwangsarbeiter in Uschlag | Quelle: Lina Stankowski, Uschlag
„Da ich Pole war, musste ich den Mund halten“
Barbara Krycka, Zwangsarbeiterin bei den Poltewerken in Duderstadt, hat sogar lediglich gefragt: „Wann wird dieser verdammte Krieg endlich zu Ende gehen?“ Eine Frage, die sich zu diesem Zeitpunkt, im Mai 1943 und somit nach der deutschen Niederlage in Stalingrad, auch viele Deutsche stellen. Doch für die Ukrainerin Barbara Krycka reicht sie bereits aus, um für drei furchtbare Monate in das „Arbeitserziehungslager“ (AEL) für Frauen in Salzgitter-Watenstedt gesteckt zu werden. Das Lager der Gestapo war ein Ort der Folter und der Erniedrigungen, viele Gefangene wurden hier ermordet. Władysław Stankowski hätte Ähnliches wie Barbara Krycka gedroht, hätte er seine wahre Ansicht ausgesprochen.
Leokadia Adamkiewicz (damals Respondek) als 16-jährige Zwangsarbeiterin in Duderstadt.
Im selben Güterzug aus Kowel (Ukraine) wie sie befand sich die zweieinhalb Jahre ältere Barbara Krycka. Im Duderstädter Lager angekommen, wurden sie fotografiert, man nahm ihre Fingerabdrücke und verpasste ihnen Nummern. Diese ersetzten fortan ihre Namen. Leokadia Adamkiewicz war dabei, als Barbara Krycka die Frage stellte, die sie für drei Monate in ein Straflager bringen sollte.
Bildquelle: Leokadia Adamkiewicz, Łuczyce
Zug mit Zwangsarbeiter*innen am Bahnhof Kowel, Mai 1942. Von diesem Bahnhof aus wurden Barbara Krycka und Leokadia Adamkiewicz einen Monat zuvor zur Zwangsarbeit nach Duderstadt geschickt.
Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-R70662, Mai 1942
Auch den aus Polen stammenden Adam Lewandowski bewahrt seine Vorsicht vor einer Denunziation und anschließender Einweisung ins Straflager. Adam Lewandowski fährt als Zwangsarbeiter beim Kohlenhändler Hartmann in Gieboldehausen in den Dörfern der Umgebung Kohlen aus. Diese Touren nutzen Deutsche, um sich von ihm ein paar Kilometer mitnehmen zu lassen. So auch des Öfteren Ludwig Fricke aus Hannover, der nach den Luftangriffen auf die Großstadt als Evakuierter in einem Hof in Krebeck einquartiert ist. Mit diesem Mann gerät Adam Lewandowski in einen Konflikt, den er nach dem Krieg so schildern wird:
Adam Lewandowski in seiner polnischen Heimat
vor der Deportation nach Gieboldehausen.
Quelle: Michael Döring, Gieboldehausen
„Einmal hatte ich einen Zusammenstoß mit ihm, als ich ihm Briketts brachte. Er schimpfte, als ich ihm die Briketts einfach ablud, ohne sie in Säcke gefüllt zu haben. Säcke gab es damals nicht. Ich hielt ihm das vor, er erklärte aber, das könnte ich wohl mit anderen machen, aber nicht mit ihm. Bei dieser Gelegenheit stieß er mich und drohte mir mit dem Krückstock. Da ich Pole war, musste ich damals den Mund halten.Später zeigte er mir mal in seiner Wohnung ein Radiogerät, dass er vom Gauleiter erhalten hatte. Dabei erklärte er mir unter anderem, dass er mich auch dahin gebracht hätte, wohin er seinen alten Stinkebauern gebracht hätte, wenn ich damals nicht nachgegeben hätte.“
Mit dem „alten Stinkebauern“ meint Ludwig Fricke seinen unfreiwilligen Quartiergeber, den Bauern und Molkereibesitzer Friedrich Schlote, der am 27. Januar 1945 im Alter von 66 Jahren als Häftling im „Arbeitserziehungslager“ Lahde ums Leben kommt. Wer dafür sorgte, dass die Göttinger Gestapo Friedrich Schlote in das Lager schickte, wird nach dem Krieg nicht aufgeklärt werden. Adam Lewandowskis Aussage, dass er als Pole im Krieg „den Mund halten“ musste, reflektiert deutlich die extrem gefährdete Position, in der sich ausländische Zwangsarbeiter*innen während des Krieges befinden.
Denunziert fürs Zigarettenkaufen
Władysław Kubiak, Zwangsarbeiter auf dem Rittergut von Stockhausen in Imbsen, bewahren seine Umsicht und sein Schweigen nicht vor einer Denunziation und Verhaftung. Am 18. November 1941 macht er sich auf den Weg zu einer ärztlichen Untersuchung nach Göttingen und versieht sich hierfür mit einer schriftlichen Bescheinigung seines „Arbeitgebers“. Denn Władysław Kubiak ist bekannt, dass polnische Zwangsarbeiter*innen ihren „Wohnort“ nicht ohne Erlaubnis verlassen dürfen. Und weil er weiß, dass sie einer besonderen Überwachung unterliegen, steckt er sogar noch seine Geburtsurkunde ein, die beweist, dass er derjenige ist, auf den die Bescheinigung ausgestellt ist.
Nachdem er die Untersuchung hinter sich gebracht hat, will er sich noch rasch Zigaretten im Städtchen besorgen. Dafür geht er zum Zigarrengeschäft Zapfe in der Johannisstraße 28. Da dort einiger Betrieb ist, steht er zusammen mit den anderen Kunden vor dem Geschäft an – und wird umgehend denunziert. Polen dürfen sich nicht gemeinsam mit Deutschen in eine Menschenschlange einreihen! Die Gewerbepolizei informiert die Göttinger Kripo, die Władysław Kubiak mitnimmt, verhört und ihn trotz seiner Bescheinigungen an die Gestapo überstellt.
Welche Strafe Władysław Kubiak von der Gestapo erhielt, ist bisher unbekannt. Später leistet er jedenfalls wieder Zwangsarbeit auf dem Rittergut Imbsen. Dort im Dorf lernt er die polnische Zwangsarbeiterin Czesława Orzechoska kennen. Die beiden bekommen zwei Kinder (Danuta und Bernard) und die Familie emigriert nach vielen Jahren in Lagern am 20. Oktober 1949 mit dem Schiff von Italien aus nach Australien.
Ein lebensgefährlicher Befehl
Bisweilen nutzen Deutsche die Abhängigkeit und Verletzlichkeit von Zwangsarbeiter*innen aus, um sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Die aus der Ukraine verschleppte Antonia Dumanska, die einem Beamten in Groß Lengden als Zwangsarbeiterin den Haushalt führt und in der Nebenerwerbslandwirtschaft hilft, muss sich für diesen Mann in Lebensgefahr begeben. Der Sohn des Beamten wird vor Stalingrad vermisst und der besorgte Vater will verlässliche Informationen über den Krieg im Osten erhalten. Aus deutschen Medien kann er die nicht bekommen. Daher weist er Antonia Dumanska an, heimlich im Haus russische Sender abzuhören und ihm anschließend den Inhalt der Meldungen mitzuteilen. Im nationalsozialistischen Deutschland gilt das Hören ausländischer Sender jedoch als „Rundfunkverbrechen“, das mit dem Tode bestraft werden kann. Die Zwangsarbeiterin kommt dem lebensgefährlichen Befehl ihres „Arbeitgebers“ trotzdem nach. Währenddessen geht er draußen mit seinem Schäferhund ums Haus, um etwaige Denunzianten vom Hof zu scheuchen. Ironie der Geschichte: Der Beamte arbeitet selbst bei der Göttinger Kriminalpolizei. Antonia Dumanskas erzwungene „Rundfunkverbrechen“ bleiben unentdeckt.
Das geht natürlich nicht allen Zwangsarbeiter*innen so. Werden sie entdeckt und denunziert, sind sie ein Fall für die Göttinger Gestapo. Ihr Weg wird sie dann entweder ins nächste Polizei- oder direkt in das Göttinger Gerichtsgefängnis führen. Dieses steht heute als ehemalige JVA Göttingen am Waageplatz leer. Das Schicksal einiger Zwangsarbeiter*innen, die dieses Gebäude während des Zweiten Weltkriegs von innen sehen mussten, werden wir im nächsten Blog-Beitrag beleuchten.
Weitere Informationen:
Zu Antonia Dumanska
Blogbeitrag März 2022: Lebensgefahr in Groß Lengden: Antonia Dumanskas Zwangsarbeit für einen Polizisten
[https://zwangsarbeit-in-niedersachsen.eu/de/blog/Lebensgefahr_Gross_Lengden_zwangsarbeit_Ukrainerin_Antonia-Dumanska.html]
Zum Thema Poltewerke in Duderstadt
Blogbeitrag Oktober 2022: „Deportiert, selektiert und ausgebeutet: Jüdische Zwangsarbeiterinnen im Duderstädter Polte-Werk
Blogbeitrag Juni 2023: Vorwärts sehen: Judit Nyitrais Lebensweg nach der Befreiung
