April 2024 | Fundstücke
Von Brunshausen nach Dachau: Ein Weg der Gewalt
Brunshausen bei Bad Gandersheim, 4. April 1945: Gefechtslärm liegt in der Luft, die Geschütze der Alliierten sind nur noch 40 Kilometer entfernt. Brüllend stürmen Aufseher die Baracken des KZ-Außenkommandos. Von der SS bewaffnet, stoßen Funktionshäftlinge („Kapos“) und Männer in Werkschutzuniformen die erwachenden Gefangenen mit Gewehrkolben, schreien „Los, los!“ Die Evakuierung des Lagers – bisher nur ein Gerücht – wird Wirklichkeit. Wer nicht mehr laufen kann, wird aussortiert und erschossen.
Seit dem Sommer 1944 beutet die Ernst Heinkel AG in Brunshausen die Gefangenen aus, lässt sie Flugzeugrümpfe für den Nachtjäger „He 219“ herstellen. Bis zu 600 männliche Häftlinge aus den KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen leisten hier Zwangsarbeit. Sie stammen aus 14 Nationen: Vor allem Franzosen, Italiener, Russen, Polen sowie einige Deutsche schuften unter entsetzlichen Umständen, unterernährt und in Baracken untergebracht, der Gewalt der SS und der Aufseher ausgeliefert.
Das Gelände des KZ-Außenkommandos Brunshausen (Aufnahme von 1951). Oben links die Klosteranlage: In der Kirche (rechts vorne bei den Bäumen) mussten die Häftlinge leben, in dem hellen Nebengebäude links wurden die ersten Toten untergebracht. Im Vordergrund die Fabrikanlagen der Heinkel Flugzeugwerke. Unten rechts die Häftlingsblocks. Zwischen Werk und Klosteranlage vier Baracken für das Personal. (Quelle: Archiv Schott AG)
Anmeldeformular von Robert Antelme als Gefangener im NS-Konzentrationslager Buchenwald. Quelle: Arolsen Archives ( Document ID 5436887)
Zu den Gefangenen gehört der Franzose Robert Antelme, der die Selektion der Gehunfähigen und den anschließenden Todesmarsch in seinem Werk Das Menschengeschlecht beschreibt:
„Da schwante denen, die nicht aufgerufen worden waren (…) plötzlich etwas. Von ihrem Strohsack aus haben sie gerufen: ‚Geht nicht, versucht zu laufen!‘ Die Vier gaben keine Antwort. Man hatte sie gefragt, ob sie laufen könnten, und sie hatten mit Nein geantwortet. Das war alles.“
Die SS-Männer ermorden 40 Häftlinge – darunter die vier Männer aus Roberts Baracke – in einem nahegelegenen Wäldchen:
„Eine Maschinengewehrgarbe. Eine Maschinengewehrgarbe. Vereinzelte Schüsse. Ein letzter Schuss.“
Die Baracke der französischen Häftlinge (Aufnahme von 1946). (Quelle: Museum der Stadt Bad Gandersheim/ Katholische Pfarrgemeinde Bad Gandersheim)
Die SS mordet weiter
Das Lager wird aufgelöst, der Todesmarsch beginnt. Die Häftlinge werden mit einer minimalen Brotration ausgestattet. Robert ist entkräftet, kann seine Kameraden nicht mehr voneinander unterscheiden. Er muss den Koffer eines SS-Mannes tragen:
„Wenn ich stehen bleibe, gibt es Schläge. Wenn ich falle, einen Feuerstoß. Das kann ganz schnell gehen. Ich stelle den Koffer wieder ab. (…) Ich verdrücke mich auf die rechte Seite der Kolonne, und ich höre nichts mehr von der Sache.“
Immer wieder holt die SS einzelne Männer aus der Kolonne, dann folgen Schüsse. Der Zug schrumpft. Die Furcht davor, der nächste zu sein, begleitet die Marschierenden.
In einem stockdunklen Saal, der einer Turnhalle gleicht, macht die Kolonne Rast. Die ausgehungerten Männer stürzen sich auf Säcke voller Hundekuchen. Auch Robert isst die Tiernahrung, will um jeden Preis überleben:
„Ich beiße in einen Hundekuchen hinein, es sind zermahlene Knochen drin, sie schmecken bitter.“
Im April 1945 entdeckten amerikanische Soldaten die Opfer eines Massakers an Gefangenen des KZ-Außenkommandos Brunshausen. Hier waren zehn Gefangene, größtenteils Italiener, auf dem »Todesmarsch« zwischen Clausthal-Zellerfeld und Braunlage durch Kopfschüsse ermordet worden.
Quelle: Imperial War Museum London, EA 64833
Wenig später quält Durchfall die ohnehin schon geschwächten Männer. Der Marsch wird fortgesetzt. Die Evakuierten wissen nicht, wohin man sie führt – vielleicht nach Buchenwald, vielleicht nach Dachau? Sie zweifeln daran, das Ziel lebend zu erreichen.
Ein Weg der Gewalt
Unterwegs werden die Marschierenden in einer Kirche untergebracht, durchqueren Dörfer, treffen auf erstaunte, belustigte, erschrockene Deutsche. In den Ausläufern des Harzes erschießt die SS zehn Russen. Wenig später werden drei Italiener ermordet. Robert nennt es „Fischfang“: Es kann jeden treffen. Kurz bevor die Kolonne Wernigerode erreicht, ist ein Doppeldecker am Himmel zu sehen. Die SS-Leute verstecken sich, dann gibt es Entwarnung. Roberts Kräfte schwinden, er stürzt; ein SS-Mann versetzt ihm Fußtritte und Kolbenschläge. Die dezimierte Gruppe wird in einen kleinen Waggon gepfercht, der Marsch per Eisenbahn fortgesetzt. Unterwegs setzt Lausbefall den Männern zu. Der Zug passiert Prag, der Zielort wird nun klar:
„Es ist jetzt sicher, dass wir nach Dachau kommen.“
Ankunft und Befreiung in Dachau
13 Tage verbringen die Männer dichtgedrängt im Waggon. Emotional und körperlich am Ende erreichen sie das KZ Dachau. Auch hier sind die Bedingungen katastrophal.
Nur die Hälfte derjenigen, die in Brunshausen aufbrachen, überlebt den Todesmarsch.
Am 29. April 1945 befreit die US-Armee das Lager. Ihre letzten Kräfte mobilisierend, stimmen einige Franzosen die Marseillaise an. Etliche Männer überleben die Befreiung nur um wenige Wochen, sterben an den Strapazen des Todesmarsches. Auch Robert ist dem Tod nahe, wiegt nur noch 35 kg.
Robert Antelme (1917–1990) in einer undatierten Aufnahme. (Bild: Marc Foucault / Gallimard)
In der Ausstellung „Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit. Südniedersachsen 1939-1945“ erfahrt ihr mehr über Zwangsarbeit in Konzentrationslagern und deren Außenkommandos in der Region.
Buchhinweis: Robert Antelme: «Das Menschengeschlecht», deutsch von Eugen Helmlé. Diaphanes Verlag, 2016.